Man hätte über den Parkplatz schlendern und nachzählen können, wie viele der schwarzen Limousinen ein E im Nummernschild haben (längst nicht alle). Man hätte abhaken können, welche Promis da sind (die üblichen von Thomas Gottschalk bis Angela Merkel). Oder man hätte eine Hitliste der schrillsten Outfits anlegen können (die diesmal eher kurz ausgefallen wäre).
Anders gesagt: Ablenkungen vom eigentlichen Ereignis gibt es viele, wenn die Bayreuther Festspiele alljährlich am 25. Juli eröffnen – diesmal auch noch nach einer ausgefallenen und einer eingeschränkten Saison. Richard Wagners Forderung "Hier gilt's der Kunst" aus den "Meistersingern" wurde in der Vergangenheit oft zitiert, um Bayreuth möglichst aus politischen Verantwortlichkeiten herauszuhalten, hier wird sie sozusagen zurückgestellt, bis alle Politikerinnen und Politiker, Stars und Sternchen, Honoratiorinnen und Honoratioren, Mäzeninnen und Mäzene bestaunt, fotografiert und auf ihren Plätzen untergebracht sind.
Schwer zu sagen, ob die Unruhe im Publikum damit zu tun hat, jedenfalls scheint es am 25. Juli immer deutlich länger zu dauern, bis die Musik zu ihrem Recht kommt. So auch diesmal: Die erste Phrase des Vorspiels zu "Tristan und Isolde" ist im Gerumpel, Gerücke und Gerede eher zu erahnen als zu hören. Die extrem lange Pause, die Dirigent Markus Poschner vor der zweiten Phrase macht, wirkt wie eine Ermahnung. Etwa so, wie wenn sich der Lehrer vor der unruhigen Klasse unterbricht und fragt: "Was habe ich gerade gesagt?"
Poschner ist kurzfristig für Cornelius Meister eingesprungen, der wiederum den an Corona erkrankten Pietari Inkinen als "Ring"-Dirigent (ab 31. Juli) ersetzt. Die Neuinszenierung von Wagners rauschhaftem Liebesdrama selbst ist eine extrem schnelle Arbeit: Erst letzten Dezember erfuhr Roland Schwab, dass er der Regisseur der neunten Neuinszenierung von "Tristan und Isolde" bei den Bayreuther Festspielen seit dem Krieg sein würde.
Das Vertrauen in das Werk selbst ist die Stärke dieser Inszenierung
Dass diese Neuproduktion deshalb unfertig oder hastig zusammengebastelt wirkte, müsste man sich aber schon einreden. Ein Indiz wären höchstens ein paar Wackler im ersten Aufzug, wenn die Sänger hörbar langsamer wollen als der Dirigent. Aber das kann auch daran liegen, dass Poschner die Tempi sehr flexibel, geradezu dynamisch handhabt.
Oder die reduzierte Personenregie, die ganz auf die Kraft der Musik und der Bilder setzt, nämlich die Ausstrahlung des großartigen Bühnenbilds von Piero Vinciguerra. Wobei: Dieses Vertrauen in das Werk selbst ist eben auch die Stärke dieser Inszenierung. Roland Schwab konzentriert sich ganz auf die beiden Hauptrollen, die anderen sind kaum mehr als Beiwerk.
Klingt nicht nach einer besonders spannenden Handlung – ist es auch nicht
Obwohl sie alle wunderbar gesungen werden: Ekaterina Gubanovas Brangäne verschmilzt magisch mit dem Orchesterklang, Markus Eiches Kurwenal gibt dazu mit glasklarem Bariton den stählernen Gegenpol. Selbst König Marke, wieder überragend verkörpert vom umjubelten Georg Zeppenfeld, ist kaum mehr als die gemäßigt mahnende Stimme der Konvention.
Das also passiert im neuen Bayreuther "Tristan": Tristan und Isolde sind im Grunde längst ein Paar. Im ersten Aufzug werden sie es allen gegenläufigen Verpflichtungen zum Trotz tatsächlich. Im zweiten geben sie sich – hochgradig stilisiert – ihrer Liebe rauschhaft hin und werden ertappt. Im dritten Aufzug ist eigentlich schon von Anfang an alles vorbei: Tristan stirbt, Isolde kommt zu spät, ihn zu retten.
Klingt nicht nach einer besonders spannenden Handlung. Ist es auch nicht. Viele Regisseure suchen ihr Heil in einer möglichst individuellen Zeichnung der Figuren. Dmitri Tschernjakow etwa gelingt das in Berlin meisterhaft. Roland Schwab aber interessieren die emotionalen Zustände und Verläufe. Er nennt das den "psychologisch uninszenierbaren Bereich". Tristan und Isolde geraten in eine Welt, in der Kräfte wirken, die nicht benennbar sind. Die sie so beherrschen – man könnte sagen: überfordern –, dass der Tod als einzig logische Fortsetzung erscheint.
Ein ovaler Raum auf zwei Ebenen, der für alle drei Aufzüge taugt
Doch mit Logik hat dieses Stück natürlich nichts zu tun. Schwab und sein Bühnenbildner Vinciguerra (Kostüme: Gabriele Rupprecht) zeigen das mit einem ovalen Raum auf zwei Ebenen, der mit leichten Änderungen für alle drei Aufzüge taugt. Vor allem aber mit einem großen, ebenfalls ovalen Bildschirm auf dem Boden: zunächst ein Pool, dessen Wasser sich unaufhaltsam blutrot färbt, später Sternenhimmel, starrendes Auge oder flirrendes Kraftzentrum, das die Liebenden bannt, führt oder trennt. Besonders einleuchtend, wenn auch naheliegend: der Strudel, in den das Liebespaar gerät.
Catherine Foster und Stephen Gould sind so etwas wie das Dauerpaar Tristan und Isolde. Wäre interessant zu erfahren, ob sie gezählt haben, wie oft sie schon in dieser Konstellation auf der Bühne standen. Gould, 60, singt heuer außerdem noch Tannhäuser und Siegfried. Sein sehr bewährter Heldentenor macht auch diesen Tristan – mit kleinen Abstrichen – zu einer Figur, deren Schicksal zu Herzen geht. Catherine Foster, 47, ist das eigentliche Ereignis dieser Inszenierung. Stimmlich makellos, zaubert sie auch die feinsten melodischen und emotionalen Nuancen mit dieser beglückenden Kombination aus Spontaneität und Präzision.
Jubel bereits nach dem ersten Aufzug und zum Schluss auch – praktisch ungetrübt – für das Regieteam. Die sonst unvermeidlichen Buh-Rufer scheinen nach Corona noch nicht wieder bei Stimme zu sein.
Karten für die Bayreuther Festspiele gibt es im Online-Sofortverkauf unter bayreuther-festspiele.de Derzeit sind noch Karten für den "Ring des Nibelungen" erhältlich.