Laufen! Rennen! Schnell! Irgendetwas verfolgt mich. Nichts Gutes. Schneller! Geht nicht. Die Beine bewegen sich, doch der Boden ist klebrig und zäh wie Honig. Und warum sieht der Himmel so seltsam aus? Vielleicht hilft schreien . . .
Ein Albtraum. Kennt jeder. Der Träumer ist hilfloser Gefangener einer Welt voll Unlogik und Seltsamkeiten. „Traum ist auch eine Form gefühlter Verletzlichkeit“, sagt Pierre-Carl Link. „Im Traum teilen wir die Erfahrung des Wahns.“
Link ist Gestaltanalytiker – praktiziert also eine spezielle Form der Psychotherapie. Bei seinen Sitzungen mit Patienten geht es immer wieder auch um Träume. Nicht um Traumdeutung im Sinn konkreter Symbol-Entschlüsselung. Im Internet ist derlei indes leicht zu finden. Da wird etwa behauptet, dass, wer von Zahnausfall träumt, bald einen geliebten Menschen verlieren werde. Für Link ist das „Scharlatanerie“. Gegenstand X im Traum bedeutet Sachverhalt Y in der Wirklichkeit: So einfach ist es nicht. Die Deutung eines Traums sollte immer „in den konkreten Lebensverlauf des Patienten eingeordnet werden“, sagt Link, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen der Universität Würzburg.
Zu üppiges Abendessen
Menschen befassen sich seit jeher mit dem Phänomen Traum. „Früher wurde dahinter das Werk von Göttern oder Dämonen gesehen“, erklärt Pierre-Carl Link. In der Aufklärung führte man dann schlechte Träume eher auf physische Ursachen zurück, etwa auf zu üppiges Abendessen.
„Ich gehe im Sommer auf der Straße spazieren, trage einen Strohhut von eigentümlicher Form, dessen Mittelstück nach oben aufgebogen ist, dessen Seitenteile nach abwärts hängen . . .“
Sigmund Freud (1856 bis 1939) nutzte Traumdeutung als Technik der Psychoanalyse. Zwar verstand auch er geträumte Gegenstände als Symbole und übertrug sie quasi in die Sprache des Wachzustandes. Allerdings wehrte er sich gegen die konkrete Übersetzung. Die Symbole seien vieldeutig, lehrte der Wiener Doktor. In seinem Hauptwerk „Traumdeutung“ (1899) gibt es denn auch keinen starren Katalog der Symbole.
Sexuelle Fixierung
Freud interpretiert individuell – etwa den Traum der Sommerspaziergängerin: „Der Hut ist wohl ein männliches Genitale mit einem emporgerichteten Mittelstück und den beiden herabhängenden Seitenteilen.“ Durchaus typisch: Der Vordenker der Psychoanalyse führte einen Großteil der Trauminhalte auf sexuelle Wünsche und Vorstellungen zurück.
„Freud muss man aus seiner Zeit heraus verstehen“, erklärt Link. Der Wiener Arzt stelle den Menschen als letztlich triebbestimmtes Wesen dar. Das äußere sich in Träumen, in denen das Unbewusste versuche, sich Bahn zu brechen. Eine Art psychischer Kontrollinstanz zensiert die „schlimmen“ Inhalte dann durch Verschlüsselung. Zudem würden, so Freud, in Träumen heimliche Wünsche erfüllt. Gewagte Thesen in einer Zeit, in der Triebe und Sexualität weitgehend tabuisiert wurden. Ein Bruch auch mit der seit der Aufklärung gängigen Vorstellung, der Menschen sei ein vernunftbestimmtes Wesen.
„Im Laufe der Geschichte wurde versucht, die Freud'schen Theorien von der sexuellen Fixierung zu befreien, etwa von Carl Gustav Jung oder Alfred Adler“, so Pierre-Carl Link. Heute gibt es zahlreiche psychoanalytische und psychologische Schulen. Dementsprechend gibt es auch nicht die einzig wahre, einzig gültige Traumtheorie.
Zufällige Signale?
Nahezu Konsens ist immerhin, dass Träume eine Bedeutung auch für das Wachbewusstsein haben. „Wir wissen, dass bei Säuglingen der Traumschlaf für die Entwicklung der Gehirnstrukturen wichtig ist“, sagt Link. „Beim Erwachsenen werden im Traum womöglich Alltagsprobleme geklärt.“
Gegen die übliche Meinung stellte sich vor Jahrzehnten der US-Psychiater Allan Hobson. Er sprach Träumen jegliche Bedeutung ab. Sie seien bloß das Ergebnis zufälliger Signale aus dem Hirnstamm. Der mittlerweile emeritierte Harvard-Professor hat inzwischen seine Meinung geändert. „Heute glaube ich, Träume sind wichtig. Sie handeln von den grundlegenden Dingen des Lebens – Gefühlen, Bewegungen, Wahrnehmungen. Träumend trainiert das Gehirn den Umgang damit: Es übt für den Tag“, sagte er 2013 in einem Interview der Wochenzeitschrift „Die Zeit“.
Mit leeren Augen starrt das Pferd. Die Brust der Träumenden wird von einem seltsamen Tierwesen belastet. Der Alb drückt. Das Atmen fällt schwer . . .
Kein Traum, sondern ein Bild. Johann Heinrich Füssli (1741 bis 1825) hat in „Der Nachtmahr“ aber eine Albtraumsituation dargestellt.
Eine seelische Verletzung
„Individualpsychologisch betrachtet, verarbeitet Füssli eine seelische Verletzung“, interpretiert Pierre-Carl Link das Bild, das derzeit im Mittelpunkt einer Ausstellung im Frankfurter Goethe-Museum steht (siehe Artikel unten). Der Schweizer Maler sei unglücklich in eine Dame namens Anna Landolt verliebt gewesen. Schmerz und Enttäuschung habe er in dem Gemälde verarbeitet. Link: „Als Gestaltanalytiker würde ich sagen: Füssli ist selbst der Alb, der auf der Brust der Frau hockt.“ So könne er der vergeblich Geliebten einen bösen Traum bescheren und sich für die Zurückweisung rächen, gleichzeitig versetze er sich in eine erotische Situation mit ihr – Wunscherfüllungen im Sinne der Freud'schen Theorien. Link: „Albträume haben also einen ambivalenten Charakter. Die Empfindungen, die mit einem solchen Traum einhergehen, faszinieren uns gleichsam so, wie sie uns ängstigen können.“
Das Pferd mit den leeren Augen ist ein Element der Sagenwelt, die laut Freud mit der Traumwelt verwandt ist: „In der Tradition kam der Nachtalb auf einem Pferd“, so Pierre-Carl Link.
Das Füssli-Bild verrate auf nicht rationalem Weg Manches über uns selbst, sagt der Würzburger Wissenschaftler. Es ist, als nehme es direkt mit dem Unbewussten des Betrachters Kontakt auf und zeige ihm, dass da alle möglichen albtraumhaften Dinge verborgen sind. Im „Nachtmahr“ erkennt der Betrachter die eigene dunkle Seite und begreift: Das Unheimliche kommt nicht von außen. Es ist in uns. Auch dieses Gefühl könne, so Link, „faszinierend und ängstigend zugleich sein“.
Wie Füsslis „Nachtmahr“ die Kunstgeschichte beeinflusste
Das Frankfurter Goethe-Museum rückt das berühmte Gemälde in den Fokus einer umfassenden Ausstellung
Frankfurt (hele) Johann Heinrich Füsslis berühmtes Gemälde „Der Nachtmahr“ (entstanden 1790/91) steht im Zentrum einer Ausstellung im Frankfurter Goethe-Museum. Sie wendet sich mit dem Thema „Traum und Wahnsinn“ der Nachtseite der Psyche zu. Füssli verbindet in seinem „Nachtmahr“ Motive aus Kunst, Literatur, Mythos, Volksglauben und Medizin mit eigenen Obsessionen. „So wird die bizarre Figuration zu einer zeitlosen Projektionsfläche für Albtraum, Vision, Erotik, Schauer und Wahn“, schreibt das Frankfurter Goethemuseum.
Zu sehen sind mehr als 150 Exponate – Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Bücher und Filme. Die Schau beleuchtet – nach Angaben des Museums erstmals – die Entstehungsgeschichte des faszinierenden Bildes und verfolgt seine bis heute anhaltende Rezeption in den unterschiedlichen Medien. Für die Auseinandersetzung der Moderne mit Füsslis Werk steht insbesondere Horst Janssens Radierungsfolge „Alp“.
Dass der „Nachtmahr“ gerade in der Karikatur ein lebhaftes Echo fand und findet, beweist eine Fülle satirischer Blätter aus dem Wilhelm-Busch-Museum Hannover, dem Kooperationspartner der Ausstellung.
Vom „Nachtmahr“ lässt sich auch der Bogen zu den Pionieren der literarischen Schauerromantik schlagen, zu John Polidoris Kurzgeschichte „The Vampyre“, Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ oder E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“. Dass der „Nachtmahr“ auch Filmemacher beeinflusste, dokumentieren Ausschnitte aus Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“ (1922) oder dem „Nachtmahr“ von Akiz (2016).
Die Ausstellung macht den Besucher auch mit dem Menschen Füssli bekannt, der zum Pfarrer ausgebildet wurde, 1765 nach London zog und als Shakespeare-Übersetzer arbeitete, bevor er sich der Malerei widmete. Sein „Nachtmahr“ löste bei den ersten Betrachtern schockierte Reaktionen aus.
Öffnungszeiten: Montag bis Samstag 10–18, Sonn- und Feiertage 10 – 17.30 Uhr. Bis 18. Juni