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MEININGEN
Zweimal Nora in einem Stück
Ein Hauch von hoffnungsvoller Poesie: Anna Kestel, Phillip Henry Brehl, Meret Engelhardt
Foto: Sebastian Stolz/filmwild.de | Ein Hauch von hoffnungsvoller Poesie: Anna Kestel, Phillip Henry Brehl, Meret Engelhardt
Von unserem Mitarbeiter Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:24 Uhr

Wir wollen ja immer wieder mal gerne wissen, was aus Bekannten geworden ist, die wir aus den Augen verloren, nachdem sie sich von ihrem Lebenspartner getrennt hatten. So geht es uns manchmal auch mit literarischen Figuren. Was etwa geschah mit Nora Helmer? Ihr Schöpfer Henrik Ibsen entließ sie am Ende in eine ungewisse Freiheit, mit vielen guten Vorsätzen, aber mit wenig Ahnung vom Leben draußen vor den Toren ehelicher Festungen.

Da kommt es natürlich gelegen, wenn der junge österreichische Regisseur Rudolf Frey („Der Rosenkavalier“, „Csárdásfürstin“) im Meininger Theater nicht nur die ganze Entourage der Ibsen-Nora zum Leben erweckt, sondern uns den Blick in Noras Zukunft öffnet, in Elfriede Jelineks 1979 uraufgeführtes Stück „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften“. Dieses Konzept verlängert die Emanzipationsbestrebungen der Frau auf knappe drei Stunden. Sollte es spannend werden: kein Problem. Die zeitlose, spartanisch eingerichtete Guckkasten-Puppenheim-Bühne von Kerstin Jacobssen mit überraschenden Drehungen und Wendungen lässt jedenfalls schon mal Raum für beide Welten.

Damit sich Nora in ihren verschiedenen Lebensphasen nicht übernimmt, hat sie der Regisseur und Kostümbildner gleich vierfach besetzt: Nora 1, die Ursprüngliche, spielt Anna Krestel, Nora 2, so etwas wie eine Moderatorin zwischen den Welten, ist Meret Engelhardt – im Wechsel mit ihrer Rolle als Noras Freundin Kristine. In die Figur von Nora 3, Fabrikarbeiterin und Geliebte des Grundstücksspekulanten Konsul Weygang (Reinhard Bock), schlüpft Ulrike Schlegel. Und Nora 4, inzwischen dem Konsul verfallen, wird gar von Vivian Frey gemimt.

Das sorgt gelegentlich für Lacher, besonders dann, wenn die Situationen ins Absurde gleiten. Im über hundertminütigen Spiel vor der Pause jedoch erzeugt es erhebliche Irritationen im Publikum. Gerade noch fühlt man mit der alten Nora in ihrem brüchigen Puppenheim, schon wird man in der nächsten Szene – Zeitsprung! – Zeuge von Sadomaso-Spielereien, mit denen sich die noble Gesellschaft zu befriedigen sucht und Nora, als Domina verkleidet, im Auftrag des neuen Geliebten ihrem Ex-Gatten Torvald Helmer (Phillip Henry Brehl) Geheimnisse entlockt.

Irritationen sind unvermeidlich, wenn zwei vom Stil, Duktus und Menschenbild völlig verschiedene Welten aneinandergeraten. Ibsen nähert sich seinen Figuren mit psychologischem Feingefühl. Jelinek macht kein Hehl aus ihrem illusionslosen Frauenbild in einer männerdominierten, machtgeilen und sexgierigen Gesellschaft. In harter Sprache geht sie ans ernüchternde Werk. Nach der Trennung von Weygang landet Nora wieder in den Armen des inzwischen bankrotten Helmer. Der Regisseur spielt dieses Ende nicht aus.

Der Vorhang fällt also und alle Fragen sind wiederum offen: Nora 1 sieht sich einer ungewissen Zukunft gegenüber, deren jelineksche Variante bereits jedem Akt als „Vorschau“ angehängt wurde. Das Knifflige an dieser Dramaturgie sind nicht die Vorschauen, in denen die Akteure der Urgeschichte plötzlich aus ihren Rollen fallen (Peter Liebaug als Rank, Björn Boresch als Krogstad, Meret Engelhardt als Kristine oder Ulrike Schlegel als Helmers Dienstmädchen). Das Knifflige ist auch nicht die Verfremdung der Situationen. Beides wird von den Schauspielern gemeistert (wenn sich auch manchmal die Stimmen im Raum verlieren).

Heikel ist vielmehr das Bemühen, die völlig verschiedenen Rhythmen und Sprachmelodien so kompatibel zu machen, dass sich die Zuschauer nicht immer wieder fragen müssen: Wer ist denn nun welche Person in welchem Stadium der Geschichte? Vor der Pause kommt es daher immer wieder zu verwirrenden Taktschwankungen. Danach jedoch findet Freys Inszenierung ihre Balance. Ein Hauch, nur ein Hauch von hoffnungsvoller Poesie weht über die Bühne. Dieser Luftzug könnte uns sogar inspirieren, der Frau Mut zuzurufen: „Versuch's trotzdem, Nora!“

Nächste Vorstellungen: 2. und 17.12., jeweils 19:30 Uhr, 15.1., 15 Uhr, 26.1., 19:30 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 45 12 22. www.das-meininger-theater.de

 
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