
Beinahe unscheinbar wirkte er, wie er auf der Bühne hinter dem Lesetischchen saß. Doch Siegfried Lenz zog mit seiner Stimme und mit launigen Bemerkungen mühelos auch Hundertschaften von Zuhörern in Bann. Wer den Schriftsteller bei einer Lesung erlebte, war nicht nur fasziniert von den Werken, aus denen er las. Auch die Ausstrahlung des Mannes mit dem – in jüngeren Jahren – sauber gescheitelten Haar faszinierte. Am Dienstag ist Siegfried Lenz in Hamburg im Kreis seiner Familie gestorben, wie sein Verlag Hoffmann und Campe mitteilte. Er wurde 88 Jahre alt.
Mit „So zärtlich war Suleyken“, humorvollen Kurzgeschichten aus seiner ostpreußischen Heimat, hatte Lenz sich 1955 ein breites Publikum geschaffen. Er war ein Autor, der auch außerhalb intellektueller Kreise große Beachtung fand, der selbst notorische Nichtleser zum Lesen brachte.
Aufarbeitung der Vergangenheit
Mit seinen Romanen und Kurzgeschichten beeinflusste er das geistige Klima im Nachkriegsdeutschland. Wie Heinrich Böll und Günter Grass gehörte er zu den Autoren, für die die Aufarbeitung der NS-Zeit an vorderster Stelle stand. Antriebsquellen waren ihm persönliche Erlebnisse in der Nazizeit und das Leid des Zweiten Weltkriegs.
Als Schlüsselwerk zur Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit gilt Lenz' 1968 erschienener Roman „Deutschstunde“. Ein Vater-Sohn-Konflikt steht stellvertretend für den Konflikt zwischen Kriegsgeneration und den damals jungen Leuten. Es geht um die Nazizeit und einen falsch verstandenen Pflichtbegriff.
Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller (unter anderem Friedenspreis des deutschen Buchhandles) ging aber über das rein Politische hinaus. Auch weil es „menschelt“, haben seine Werke Erfolg: In „Der Verlust“ (1981) geht es grundlegend um Sprache und Kommunikation – die Hauptfigur verliert durch einen Schlaganfall die Fähigkeit zu sprechen. Immer wieder fand Lenz auch Zeit und Lust für Humoristisches.
Lenz war weltweit geachtet. Die Werke des am 17. März 1926 im ostpreußischen Lyck (heute Elk) geborenen Autors wurden nach Verlagsangaben in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Die weltweite Gesamtauflage liege bei über 25 Millionen. Lenz erreichte sein Publikum auch über andere Medien als das traditionelle Buch. Seine Romane „Deutschstunde“ und „Heimatmuseum“ wurden fürs Fernsehen verfilmt. Auch mit „Der Mann im Strom“, „Das Feuerschiff“ und „Die Auflehnung“ – alle besetzt mit dem beliebten „Großstadtrevier“-Schauspieler Jan Fedder – erreichten Lenz-Geschichten via Fernsehen ein Millionenpublikum.
Lenz war keiner, der sich in den Elfenbeinturm zurückzog. Über seine Jugend in Masuren sprach er aber ungern. Mit 17 Jahren, nach dem Notabitur, kam Lenz zur Kriegsmarine. Zunächst begeistert, weckte das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 bei ihm Zweifel: „An diesem Tag stürzte ich aus einer Illusion.“ Auch das Elend und Sterben im Krieg veränderte den jungen Mann: „Ich musste die Tode anerkennen, die Verzweiflung der Flüchtlingstrecks, die Schiffstragödien.“ In den letzten Kriegswochen wurde der Soldat Siegfried Lenz nach Dänemark geschickt. Dort desertierte er nach einer Hinrichtung und wartete dann mit der Hilfe dänischer Bauern das Kriegsende in den Wäldern ab. Das nach Kriegsgefangenschaft in Hamburg begonnene Lehrerstudium brach Lenz 1948 ab, um Journalist zu werden. Kurz arbeitete er als Kulturredakteur bei der Zeitung „Die Welt“. 1951 begann er als freier Schriftsteller in der Elbmetropole. Die sollte auch seine neue Heimat werden und bleiben.
Lenz wollte nicht nur durch Schreiben Wirkung erzielen. Dem gestand er ohnehin nur begrenzte Wirkung zu. Er engagierte sich also politisch, in den 1960er und 1970er Jahren für die SPD. Er unterstützte die Ostpolitik von Willy Brandt – sie kam seinen eigenen Vorstellungen der Versöhnung nahe. Auf Einladung Brandts reiste er – neben Günter Grass – 1970 nach Warschau zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages.
2010 die zweite Ehe
Lenz' 14. und letzter großer Roman – „Fundbüro“ – erschien 2003. Mit der Novelle „Schweigeminute“ gelang ihm 2008 im hohen Alter noch ein Besteller. Sein letzter Erzählband – „Die Maske“ – kam 2011 in die Buchläden. Siegfried Lenz war in den letzten Jahren gesundheitlich angeschlagen. Er war auf einen Rollstuhl angewiesen und lebte in einer Seniorenresidenz in Hamburg. Dort hatte er von seinem Appartement aus immerhin freien Blick auf den geliebten Fluss, die Elbe. 2006 war seine Frau, mit der er 57 Jahre lang verheiratet war, gestorben. 2010 heiratete er eine langjährige Freundin.
Einen seiner letzten öffentlichen Auftritte hatte Siegfried Lenz 2013 beim Filmfest in Hamburg: Er sah sich die Verfilmung seiner Kurzgeschichte „Die Flut ist pünktlich“ an. Mit Material von dpa
Wichtige Lenz-Werke
„So zärtlich war Suleyken“ (1955): Liebeserklärungen an seine ostpreußische Heimat Masuren nannte Lenz die 20 Geschichten und Skizzen. „Deutschstunde“ (1968): Der erfolgreichste Roman des Autors handelt von einem falsch idealisierten Pflichtbegriff und seinen verheerenden Folgen. Er thematisiert das Verhältnis von Macht und Kunst am Beispiel des Malverbots für den Künstler Jansen – Vorbild war Emil Nolde. Zudem geht es um einen Vater-Sohn-Konflikt. Die Geschichte von Siggi Jepsen, der einen Aufsatz über „Die Freuden der Pflicht“ schreiben muss, gilt international als gelungene literarische Aufarbeitung der jüngeren deutschen Vergangenheit. „Heimatmuseum“ (1978): Anhand eines Patienten, der sein Leben überdenkt, führt Lenz das Problem der deutschen Nachkriegsgesellschaft vor. „Ein Kriegsende“ (1984): In der Erzählung geht es um den Konflikt von Gehorsam und Verantwortung, Kriegsrecht und Menschlichkeit. „Schweigeminute“ (2008): In der Novelle geht es um die Liebe zwischen einem 18-jährigen Gymnasiasten und seiner etwa 30 Jahre alten Englischlehrerin. „Landesbühne“ (2009): Die Summe seiner existenzialistischen Lebenssicht konzentriert Siegfried Lenz in dieser weisen Novelle.