Es waren Sekunden für die Ewigkeit. Wenn sich nach dem Schlussakkord der Ton im Raum allmählich auflöste, verharrte Claudio Abbado einen ergreifenden Augenblick lang auf dem Podium. In sich gekehrt, lauschte er dem Nachhall. Die Zuhörer fühlten und verstanden sofort: Menschen machen Musik auch für diesen Moment der Stille. Dann brach der Sturm los. Der Dirigent drehte sich zum Publikum, lächelte kurz, verbeugte sich knapp und eilte hinter die Bühne.
Wer Abbado hörte, wer ihn dirigieren sah, vergaß die Begegnung nicht mehr. Der Italiener zählte zu den ganz Großen in der Welt der klassischen Musik. Nach langer Krankheit ist er am Montag im Alter von 80 Jahren in Bologna gestorben – „unbeschwert“ und im Kreis seiner Familie, ließen die Familienangehörigen über das Sekretariat des Künstlers mitteilen.
Zwölf Jahre war Abbado Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. In seiner Heimat war der am 26. Juni 1933 in Mailand geborene Sohn einer Musikerfamilie ein umjubelter Star, in Wien und Salzburg wurde er hofiert, in New York bewundert. Er gründete Orchester und Festivals, versammelte die besten Musiker der Welt um sich und verhalf vielen zur Karriere. Doch Abbado blieb zeitlebens der zurückhaltende Mailänder, immer der Musik verpflichtet.
Vor allem in Berlin hat der Maestro tiefe Spuren hinterlassen. Nach den Jahren des Sturm und Drangs unter dem nahezu absolutistischen Herrscher Herbert von Karajan gelang Abbado ein grundlegender Wandel. „Ich heiße Claudio“: So stellte sich der Dirigent den Musikern vor, die ihn 1989 an die Spitze der Philharmoniker wählten. Die Bescheidenheit war keine Pose. Abbado glaubte an eine gewisse Form von Demokratie im Orchester, jedenfalls an jene, mit der sich Musiker persönlich angesprochen und gefördert fühlen.
Rund 20 Themenprogramme gestaltete Abbado in Berlin, bei denen sich etwa Literatur, Film und Bildende Künste als Brücke zur Musik verbanden – unter Schlagwörtern wie „Prometheus“, „Faust“ oder „Der Wanderer“. Nach den Jahren des Karajan-Glamours setzte Abbado ambitionierte Akzente, die nicht immer dem Geschmack des Abonnenten-Publikums entsprachen, aber den intellektuellen Glanz des Orchesters mächtig aufpolierten. Diesen Schliff vermisste später ein Teil des Publikums bei seinem Nachfolger Simon Rattle.
Zuvor in Wien, wo er in jungen Jahren bei Hans Swarowsky in die Lehre gegangen war, musste er sich als Generalmusikdirektor den Vorwurf anhören, er habe einen Hang zum „Schwierigen und Raren“. Auch in Berlin zweifelten manche Kritiker, ob das Vorzeige-Orchester nicht seinen spezifischen Klang verliere. Dabei gerieten Aufführungen wie Alban Bergs „Wozzeck“ oder Mussorgskis „Boris Godunow“ zu gerühmten Klangwundern der Ära Abbado. Zu einem Verkaufserfolg wurde die Einspielung der neun Beethoven-Symphonien.
Als Dirigent hatte Abbado 1960 an der Mailänder Scala debütiert, die er später auch leiten sollte. Dort gründete er auch das Philharmonische Orchester der Scala, brachte frischen Wind in das Haus, erschloss dem Operntempel als Rossini- und Verdi-Spezialist ein neues Repertoire. Abbado glaubte an eine Demokratisierung der als elitär verschrienen Gattung Oper, setzte sich für verbilligte Karten ein. Mit dem Komponisten Luigi Nono und dem Pianisten Maurizio Pollini rief er mit Hilfe der Kommunistischen Partei Italiens und der Gewerkschaften Konzerte für Arbeiter im Industriegebiet von Reggio Emilia ins Leben.
Wegen der Finanzmisere der Scala entschied sich Abbado, Mailand zu verlassen. Er wurde 1986 Musikdirektor der Wiener Staatsoper und Gastdirigent der Wiener Philharmoniker, was er 1991 nach Spannungen mit der Wiener Operndirektion aufgab. Als Operndirigent blieb er an den großen Häusern von der New Yorker „Met“ bis zum Londoner Covent Garden gefragt. Aber der „große Magier des Taktstocks“ wollte er nie sein – und schon gar nicht großer Zampano und Orchesterdompteur.
Nach seinem Rückzug 2002 aus Berlin verbrachte Abbado viele Monate in seinem Haus auf Sardinien. Er wolle nur noch Konzerte dirigieren, die ihm Spaß bereiten, erklärte er. Abbado war bereits vom Magenkrebs gezeichnet, seine Gestalt wurde immer hagerer, dennoch bewahrte er sich die Vitalität, auch immer wieder etwa Neues auszuprobieren. Aus dem Luzerner Festival Orchester, das sich jedes Jahr im Sommer zu Konzerten traf, machte er ein Spitzenorchester. Die Aufführung von Gustav Mahlers 2. Sinfonie wurde ein später Triumph Abbados.
Er blieb der Liebling des Berliner Publikums und kehrte jedes Jahr in die Stadt zurück – als heimlicher Orchesterchef. Der Tod Abbados sei ein „unendlich schwerer Verlust“, erklärte das Berliner Orchester am Montag auf seiner Homepage. „Seine Liebe zur Musik und seine unstillbare Neugier waren uns Inspiration und haben unser musikalisches Schaffen seit seinen ersten Konzerten mit uns im Jahr 1966 geprägt. Wir sind stolz, ihn zu unseren Chefdirigenten zählen zu können und Teil seines musikalischen Erbes zu sein.“