zurück
Zu Besuch bei Anne Frank
Prinsengracht 267 in Amsterdam: Das Anne Frank Museum ist längst ein Wallfahrtsort. Rund 1,2 Millionen Menschen pro Jahr wollen sehen, wo sich das jüdische Mädchen mit ihrer Familie und Freunden einst versteckte.
Von unserer Mitarbeiterin Heike Thissen
 |  aktualisiert: 12.06.2014 16:27 Uhr

Das Knarzen nimmt kein Ende. Ununterbrochen ist es zu hören, von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends. Zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Es sind diese steilen Treppen, so typisch für Amsterdam, die unter den Füßen von bis zu 4000 Menschen jeden Tag knirschen und knacken. Im Treppenhaus des Anne Frank Museums in der Prinsengracht 267 gehört dieser Geräuschpegel dazu. Er ist die Begleitmusik für einen Besuch in dem Gebäude, in dem sich die Jüdin Anne Frank zusammen mit ihrer Familie, dem Ehepaar van Pels nebst Sohn Peter und später auch dem Zahnarzt Fritz Pfeffer zwei Jahre lang vor den Nationalsozialisten versteckte.

Doch wer rein will, muss erst mal draußen bleiben. Die Schlange vor dem Eingang ist lang. Sie führt vom Museum entlang des Kanals der Prinsengracht bis zur Westerkirche an der nächsten Straßenkreuzung und im Sommer auch noch um das Gotteshaus herum. Zwei Stunden oder länger stehen sie in der gleißenden Sonne oder im strömenden Regen. „Das Anne Frank Haus ist ein fester Programmpunkt in unserem Amsterdam-Besuch, egal, wie lange wir warten müssen“, erklärt ein Vater aus Deutschland. Seine beiden Töchter haben das Tagebuch in der Schule gelesen und wollen jetzt einmal mit eigenen Augen sehen, wo Anne ihre Gedanken aufgeschrieben hat. Für sie und 1,2 Millionen andere Besucher pro Jahr ist das Museum ein fester Bestandteil im Urlaubsprogramm, eine Pilgerstätte.

Fast 30 Millionen Menschen haben seit der Eröffnung 1960 das Haus besucht. Und genau hieraus ergibt sich ein Konflikt, der rund um Anne Franks Erbe schwelt. „Annes Vater Otto wollte kein Museum oder eine Pilgerstätte“, erklärt Yves Kugelmann, ehrenamtliches Mitglied des Stiftungsrates des Anne Frank Fonds in Basel. Der Fonds wurde von Otto Frank gegründet, als Universalerbe verwaltet er die weltweiten Rechte am literarischen Werk der Familie Frank, darunter auch Annes Tagebuch. „Entgegen der weit verbreiteten Meinung war Otto Frank bei der Gründung des Museums nicht involviert. Er wollte eine Begegnungsstätte für Jugendliche, kein Mausoleum für seine Tochter“, fährt Kugelmann fort.

Bei der Anne Frank Stiftung, die das Museum betreibt, sieht man das anders. „Der Zweck des Museums ist, die Mission von Otto Frank weiterzuführen“, sagt Pressesprecherin Annemarie Bekker. Er sei der Motor hinter der Idee gewesen, den Originalschauplatz der Geschichte zum Museum zu machen. „Er wollte, dass die Leute nicht nur das Buch lesen, sondern dass sie sich auch Gedanken darüber machen, was es ganz allgemein bedeutet, jemanden auszuschließen oder der Ausgeschlossene zu sein.“ Also öffne man das Haus für die Öffentlichkeit und kümmere sich gleichzeitig um die Erziehungsarbeit. Den Kontakt und die Kommunikation zwischen Jugendlichen aus verschiedenen Kulturen, Religionen und ethnischen Hintergründen herzustellen und so Intoleranz und Diskriminierung vorzubeugen, sei eines seiner wichtigsten Anliegen gewesen.

Was nun tatsächlich der Wunsch Otto Franks war, lässt sich für Außenstehende nur schwer nachvollziehen. Ein Museum? Oder lieber kein Museum? In einem Punkt allerdings hat das Anne Frank Haus auf jeden Fall Franks Wunsch respektiert: Die Zimmer, in denen sich die acht Juden versteckt hielten, sind leer. „Otto Frank wollte keine Möbel darin stehen haben, um die Leere zu symbolisieren, die nach dem Holocaust entstanden war“, erklärt Annemarie Bekker. Wer beim Warten in der Schlange gehofft hat, das Bett von Anne oder den Nachttopf ihres Vaters zu sehen, wird enttäuscht. Obwohl es sich die Versteckten in dem Gebäude, das einst zu Otto Franks Geliermittelfirma gehörte, den Umständen entsprechend komfortabel eingerichtet hatten, ist davon nichts mehr zu sehen. Die Nationalsozialisten haben nach der Verhaftung der Hinterhaus-Bewohner alles mitgenommen, was sich tragen ließ. Und doch gibt es Überbleibsel, die auf viel ergreifendere Weise als ein Bett klarmachen, dass hier zwei Familien untergetaucht waren.

Anne kam über den selben Aufgang ins Versteck wie die Besucher. Sie nennt ihn im Tagebuch „eine lange, übersteile, echt holländische Beinbrechertreppe“. Das Bücherregal, das den Zugang verbarg, steht noch an seinem originalen Platz. Die abgedunkelten Fenster, durch die kein Lichtstrahl von innen nach draußen dringen durfte. In dem Zimmer, in dem Anne und der Zahnarzt Fritz Pfeffer schliefen, hängen immer noch die Fotos von Heinz Rühmann, Greta Garbo und anderen Stars der damaligen Zeit, für die Anne schwärmte.

Wie viele andere Eltern hielten Otto und Edith Frank das Wachstum ihrer Kinder mit Bleistiftmarkierungen an der Wand fest, die noch heute zu sehen sind: Anne, anfangs 13 Jahre alt, wuchs im Versteck 13 Zentimeter. Ihre Schwester Margot, 16, nur fünf. Der letzte Strich von Anne stammt vom 29. Juli 1944. Sechs Tage später werden sie verhaftet. Die Karte von der Normandie, in die Otto Frank mit Stecknadeln den Vormarsch der Alliierten eintrug, hängt dort, wo er sie angebracht hatte, und macht deutlich: Fast hätten sie es geschafft, Anne und ihre Mitbewohner. Die Rettung war so nah und kam doch zu spät. Vielleicht ist es genau das, was die Menschen so rührt: diese Tragik, die in der Geschichte des jungen Mädchens liegt, das so gerne eine berühmte Journalistin geworden wäre. Und nicht ahnte, dass sie es tatsächlich werden würde – wenn auch erst nach ihrem Tod. Otto Frank, der als einziger der acht Untergetauchten den Holocaust überlebt, erhält das Tagebuch nach seiner Rückkehr nach Amsterdam von Miep Gies.

Hunderte Millionen von Lesern

Sie ist eine der fünf Eingeweihten, die die Untergetauchten mit Lebensmitteln, Kleidung und Nachrichten von draußen versorgt haben. Er liest es, überarbeitet und veröffentlicht es zusammen mit einem Verlag im Juni 1947 unter dem Titel „Het Achterhuis“ – „Das Hinterhaus“. Yves Kugelmann vom Anne Frank Fonds hat kein Problem damit, dass viele Menschen sich für Anne interessieren. Im Gegenteil: Genau von diesem Interesse lebt der Fonds, der sämtliche Einnahmen spendet oder für Bildungsprojekte verwendet. In mehr als 80 Länder weltweit ist das Buch verkauft worden, Hunderte Millionen von Menschen haben es gelesen. Doch der Anne Frank Fonds wehrt sich gegen jene, die mit Anne ein Exempel statuieren und sie zum Selbstzweck vermarkten wollen. „Dass sie zum singulären, aus dem Zusammenhang gerissenen Opfer des Holocaust stilisiert wird, ist wenig sinnvoll. Das wird der Geschichte und den Opfern nicht gerecht.“ Denn genau genommen findet der Holocaust im Buch selbst ja gar nicht statt. Annes Tagebuch endet drei Tage, bevor jemand – es wird nie geklärt, wer – sie und die anderen Juden in der Prinsengracht 267 an die Nationalsozialisten verrät. Sie werden verhaftet und ins „Judendurchgangslager“ Westerbork überführt. Mit dem letzten Transport kommen sie in Auschwitz an, von wo Anne und Margot ins Konzentrationslager Bergen-Belsen überführt werden. Beide sterben Ende Februar oder Anfang März 1945 an Typhus.

Deshalb kann es schon einmal vorkommen, dass der Fonds sich gegen Veröffentlichungen über Anne Frank ausspricht. Der medialen Verbreitung des Tagesbuchstoffs tut das keinen Abbruch. Seit kurzem zeigt das Amsterdam Theater das Musical „Anne“. Theaterstücke, Kino- und Fernsehfilme, Bücher und Comics sind auf dem Markt. Und es werden noch mehr werden. Da sich Annes Todestag 2015 zum 70. Mal jährt, laufen in vielen Ländern die Rechte an dem Tagebuch aus. Dann kann theoretisch jeder mit dem Stoff machen, was er will. Und mit Anne Frank, die gestern, 12. Juni, 85 Jahre alt geworden wäre, lässt sich Geld verdienen, viel Geld. Das Anne Frank Museum ist auf diese Werbetrommel nicht angewiesen. Längst ist das Hinterhaus mit den knarzenden Treppen ein Wallfahrtsort. „Wir müssen jedes Jahr die Zimmer neu tapezieren, weil die Leute die Tapete abreißen und als Andenken mit nach Hause nehmen“, sagt Annemarie Bekker.

Anne Frank (undatiertes Bild)
Foto: dpa | Anne Frank (undatiertes Bild)
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Anne Frank
Freunde
Greta Garbo
Heinz Rühmann
Holocaust
Investmentfonds
Juden
Judentum
Museen und Galerien
Nationalsozialisten
Pfeffer
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen