Nach Italien, nach Italien!‘ rief ich voller Vergnügen aus, und rannte, ohne an die verschiedenen Wege zu denken, auf der Straße fort, die mir eben vor die Füße kam.“
Bloß weg hier, denkt der junge Mann. Vergiss das geregelte Einkommen! Bloß weg vom Zolleinnehmerhäuschen und raus aus dem piefigen roten Schlafrock mit den gelben Punkten! Fort mit der albernen Nachtmütze! Der junge Mann ist der Taugenichts, Titelheld von Eichendorffs bekanntester Novelle. Und in seiner Hast, nach Italien, „das Land, wo die Pomeranzen wachsen“, zu kommen, könnte er ein typischer Deutscher sein. Auch wenn er nicht ausdrücklich als solcher beschrieben wird. Auch wenn „Taugenichts“ und „deutsch“ auf den ersten Blick gar nicht zusammenpassen wollen. Denn ein Taugenichts, das ist irgendwie ein Lebenskünstler, einer, der die Welt so nimmt, wie sie ist – und sie dabei genießt. Der Deutsche dagegen ist der, der für alles Vorschriften braucht und Verbote. Der Dinge, die in anderen Ländern simpel sind, unter einem Berg von aktengeordneter Bürokratie begräbt. Siehe Autobahnmaut.
Der Deutsche. Das ist der, der alles ernst nimmt. Auch den Urlaub. Doch da wird er dann immerhin wochenweise oder auch nur tagelang – was die Urlaubskasse halt hergibt – zum Taugenichts. Jedenfalls strengt er sich an, so zu werden. Und tut so, als könnte er Schlafrock und Nachtmütze ablegen und einfach losrennen, ohne wirklich die Richtung zu wissen. Ins Navi gibt er ausnahmsweise „Autobahnen vermeiden“ ein. Was zwar nicht ganz dasselbe ist wie die fröhliche, kopflose Reise des Eichendorff-Helden, aber doch ganz schön verwegen. „Autobahnen vermeiden“: Da kommt man durch Dörfer und womöglich mit Land und Leuten in Berührung!
Ob mit oder ohne Navi, ob per Auto, Bahn oder Flugzeug – Reiseziel ist Italien. Jedenfalls sehr, sehr oft, das hat der heutige Möchtegern-Taugenichts mit dem Eichendorff'schen Original gemein. Rom, die Ewige Stadt, stand 2013 in der Rangliste der Reiseziele der Deutschen ganz oben, berichtete das „Handelsblatt“. Sehnsucht nach Italien: Das scheint über mehrere Jahrhunderte hinweg eine deutsche Befindlichkeit zu sein.
An deutschen Befindlichkeiten ist im Zweifelsfall der Herr von Goethe schuld. Tatsächlich könnte der Dichterfürst den Trend zumindest befeuert haben. 1786, Eichendorff war noch gar nicht geboren, hat der Geheime Rat genug von langweiligen Weimarer Regierungsgeschäften und ermüdenden Nachmittagsgesellschaften bei Herzogin Anna Amalia samt gelehrten Disputen. Also macht er auf Taugenichts, schleicht sich am 3. September um drei Uhr früh fort von Wasserkuren und Wanderungen in Karlsbad, lässt die ganze Gesellschaft dort zurück – seinen Arbeitgeber, Herzog Carl August inklusive – und reist nach Italien. „Die Begierde, dieses Land zu sehn, war überreif“, schreibt er in einem Brief.
Goethe reist – Abenteuer! – inkognito und gibt sich als Maler Johann Philipp Möller aus, behauptet, 27 zu sein (er war zehn Jahre älter) und findet in Rom Aufnahme in einer munteren Künstlerkolonie. Er wolle „die Träume seiner Jugend ins Leben treten“ lassen, schreibt Rüdiger Safranski in „Goethe – Kunstwerk des Lebens“ und: „Die Steifheit, über die manche klagten, soll sich unter der südlichen Sonne lösen.“ Er klingt wie die Beschreibung eines Allzeit-Prototyps des deutschen Italien-Touristen. Dazu passend hat Goethe auf der Hinreise und später bei Ausflügen von Rom aus ein Besichtigungsprogramm. „Er hat sich mit Reise- und Kunstführern ausgerüstet, und die wollen abgearbeitet werden“, schreibt Safranski.
Unter den Malern, mit denen Goethe in Rom diskutiert und feiert, ist auch Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Der Hesse verewigt den Freund in dem Bild „Goethe in der Campagna“ (mit zwei linken Füßen), der heute wohl bekanntesten Darstellung des Dichterfürsten. Die Reise ins „Land, wo die Zitronen blühn“ (Goethe) macht Schule. Das Studieren der klassischen Bauwerke und Ruinen, das Einfangen des flimmernden Lichtes über der Landschaft werden für Maler zum nahezu unverzichtbaren Bestandteil der Biografie. „In den 1810er/1820er Jahren hielten sich teilweise bis zu 130 deutsche Künstler gleichzeitig in Rom auf“, sagt Dr. Henrike Holsing, stellvertretende Leiterin des Würzburger Kulturspeichers. Das Museum widmet sich in der Ausstellung „Von Rembrandt bis Richter“ auch dem Thema „Italien“ (siehe Kasten).
In den 1950er Jahren lodert die Italiensehnsucht wieder auf, wie Anfang des 19. Jahrhunderts, zu Zeiten der Romantiker. Kaum hat der Deutsche einen VW Käfer oder auch bloß eine Isetta, quält er die luftgekühlten Motoren über die Alpenpässe – gen Italien (ein Stammtischwitz, so alt wie die römischen Ruinen). Zur Not tut's auch die 200er Zündapp oder eine Bus-Pauschalreise. 1957 ist jeder vierte Italien-Tourist ein Deutscher, und die Adria kriegt den Spitznamen „Teutonen-Grill“ ab, weil sich dort der deutsche Taugenichts auf Zeit, des Schlafrocks und der Nachtmütze ledig, die Haut röten lässt.
Natürlich kann man Italienreise samt Besichtigungsprogramm und Spaghetti auch ganz schön spießig finden und als Urlaubstaugenichts lieber Komasaufen am Ballermann auf Mallorca betreiben. Kann sein, dass sich eine Trendwende ankündigt. Zwar ist die Stadt Rom der Deutschen Städtereiseziel Nummer eins. Das Land Italien aber wurde als bevorzugtes Reiseziel laut Tourismus-Analyse der Stiftung für Zukunftsfragen von Spanien überflügelt, zu dessen Staatsgebiet auch der Ballermann gehört.
Doch Spanien liegt nur auf Rang zwei. Denn am liebsten bleibt der Deutsche (aktuell jeder vierte) im eigenen Land. Dann ist er, sozusagen als Taugenichts light, nicht so weit vom Schlafrock entfernt und von der Nachtmütze, die er säuberlich gebügelt und auf Kante gefaltet im Schrank aus Eiche massiv aufbewahrt.
Ausstellung in Würzburg
„Von Rembrandt bis Richter“ heißt die aktuelle Ausstellung des Würzburger Museums im Kulturspeicher. Zu sehen sind rund 120 Werke aus dem 17. bis 20. Jahrhundert. Es sind ausschließlich Arbeiten auf Papier, also Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafiken.
In einer Koje sind auch Bilder zu sehen, die die Italiensehnsucht Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts zeigen. Darunter ist das links abgebildete Tischbein-Aquarell.
Öffnungszeiten: Dienstag 13–18, Mittwoch und Freitag bis Sonntag 11–18, Donnerstag 11–19 Uhr. Bis 28. September.