Es hatte sich angedeutet: Immer prominenter wurden die Häuser und die Orchester, die Marie Jacquot zu Gastdirigaten einluden. Zuletzt hat Rolando Villazón sie in seiner arte-Sendung "Stars von morgen" präsentiert. Nun verlässt die Erste Kapellmeisterin das Mainfranken Theater und geht in gleicher Funktion an die renommierte Deutsche Oper am Rhein mit den Spielorten Düsseldorf und Duisburg. In Würzburg ist sie mit farbigen, präzisen und klanglich hochdifferenzierten Interpretationen schnell zum Publikumsliebling avanciert. Ein Gespräch über erste Erfahrungen als Operndirigentin, den Blick über den Atlantik und den Wunsch, mit Musik den Menschen zu helfen.
Frau Jacquot, Sie verlassen nach drei Spielzeiten das Mainfranken Theater. Wie wichtig war Würzburg?
Marie Jacquot: Sehr. Sehr wichtig. Es war meine erste Opernerfahrung hier, und ich habe extrem viel gelernt, was das Repertoire betrifft. Aber auch, wie ein Opernhaus funktioniert. Wie die Menschen miteinander arbeiten sollten, das Zusammenspiel, die Kommunikation. Und natürlich habe ich über meinen Beruf als Dirigentin und Musikerin sehr viel gelernt.
Wenn Sie es in einen Satz fassen sollten: Was ist der wichtigste Lerninhalt?
Jacquot: Ich glaube, Distanz. Nicht im falschen Sinn des Wortes. Sondern: nicht zu schnell Dinge klären wollen. Weil: Kunst braucht Zeit.
Man steht in der Probe, irgrendwas läuft nicht, wie gewünscht...
Jacquot: Genau. Manchmal will man das sofort lösen und wird vielleicht ein bisschen hektisch. Das habe ich gelernt: Ein bisschen Abstand nehmen. Es braucht Zeit, sowohl menschlich als auch künstlerisch.
In unserem ersten Gespräch im Januar 2017 haben Sie erzählt, dass Sie früher nie viel mit Oper am Hut hatten. Tatsächlich hatten Sie Ihre erste Opernpartitur überhaupt hier auf dem Pult – im dritten Durchgang des Probespiels für diese Stelle. Wie ist das heute?
Jacquot: Ohne Oper kann ich jetzt nicht mehr leben. Oper ist so unglaublich vielseitig und hat so viele Farben und Facetten. Man muss mit so vielen Menschen aus so vielen Bereichen zusammenarbeiten. Mit Management, Technikern, Musikern, Schauspielern, Tänzern, Dramaturgie, Presse. Diese menschliche Vielseitigkeit ist für mich das Spannendste. Wenn man das in einem Haus macht, in dem man langfristig etwas aufbauen kann, fühlt sich das an wie Familie. Und: Wenn etwas nicht so gut klappt, macht man es das nächste Mal besser. Man bekommt immer noch eine zweite, dritte Chance.
Sie haben in den letzten Jahren unglaublich viele Einladungen zu Gastdirigaten bekommen. Das ist ja dann anders. Wie fühlt es sich an, in München, Berlin, Stuttgart reinzuschneien?
Jacquot: Das ist eine Bereicherung. Man nimmt von jeder Erfahrung etwas mit. Ich profitiere dort von meinen Erfahrungen hier, und ich profitiere hier von den Erfahrungen an anderen Häusern. Es ist sehr wichtig, als Dirigentin nicht nur den eigenen Bereich zu vertiefen. Alle Bereiche ergänzen sich: Oper, Sinfonik, Neue Musik, Popmusik, Volksmusik – all das ist für mich als Künstlerin bereichernd.
Sie werden jetzt von Columbia Artists für Amerika und Großbritannien vertreten. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Jacquot: Nichts anderes, als das, was ich schon jetzt mache, aber in Amerika funktionieren das Musikerleben und die Orchesterstukturen ganz anders. Ich komme ja aus Frankreich, also aus Europa, und diese Kultur liegt mir nahe. Ich kenne die amerikanische Kultur und die Art, wie die amerikanischen Orchester spielen, noch nicht. Auf der Ebene, auf der ich jetzt angekommen bin, habe ich das Gefühl, ich muss verschiedene Spielweisen kennenlernen, um zu wissen, was am besten meiner künstlerischen Idee entspricht. Vielleicht werde ich irgendwann amerikanische Orchester für ein bestimmtes Repertoire bevorzugen.
Also etwa Mahler nur noch in Chicago?
Jacquot: Ja, zum Beispiel. Die Blechbläser in Amerika sind berühmt für diesen großen, hellen, richtig strahlenden Klang. Bruckner könnte da interessant sein. Aber Bruckner hat wiederum für den Klang geschrieben, den er kannte, also wohl doch den sanften, warmen Wiener Klang...
Sie sind also an einem Punkt, an dem Sie in die Welt hinausziehen können, um zu schauen, was passiert?
Jacquot: Ja. Es ist für mich ein bisschen ein Widerspruch. Ich möchte jetzt mehr Orchester kennenlernen. Andererseits bin ich extrem traurig, wenn eine Zusammenarbeit so gut funktioniert wie hier und ich jetzt wegrenne. Einerseits möchte ich es machen, andererseits auch wieder nicht. Es tut mir als Mensch immer weh, wenn ich weggehen muss.
Werden Sie denn als Gast hin und wieder hier sein?
Jacquot: Vielleicht. Schauen wir...
Was gibt es für Projekte in Düsseldorf?
Jacquot: Ich beginne die Zusammenarbeit mit meinem neuen Generalmusikdirektor Axel Kober. Wir machen "Samson et Dalila" von Saint-Saëns in Düsseldorf. Dann leite ich die Übernahme von Gounods "Romeo et Juliette" in Duisburg, dem zweiten Haus der Deutschen Oper am Rhein. Somit habe ich die Möglichkeit, gleich mit beiden Orchestern, den Düsseldorfer Symphonikern und den Duisburger Philharmonikern, intensiver zu arbeiten. Dazu kommt die Wiederaufnahme von „Petrouchka / L’enfant et les sortilèges“, eine sehr spannende Produktion, sowie Vorstellungen im breit gestreuten Repertoire der Oper. Es sind nicht so viele Vorstellungen, aber darüber freue ich mich, weil ich dann andere Häuser besuchen kann.
Wir haben damals auch über den fernen Traum von Wagners "Parsifal" gesprochen und über Mozart. Wagner steht noch nicht auf der Liste, wie ist es mit Mozart? Sie haben gesagt, Sie hätten immer das Gefühl, sie stören mit Ihrem Dirigat die Musik.
Jacquot: Das ist immer noch so. Ich habe gerade "Medea" von Cherubini in Stuttgart gemacht, das geht auch in die Richtung. Alles steht genau da, wo es hingehört. Jede Bewegung ist so sensibel, dass alles zerfallen kann. Wenn das Tempo stimmt, bekommen die Sänger diesen Fluss im Körper. Wenn es nur ein bisschen schneller oder langsamer ist, entstehen andere Welten. Und oft nicht gute. Bei Mozart muss man so deutlich und so wenig wie möglich dirigieren – es muss von selbst entstehen, man darf es nicht stören. Da bin ich immer noch ein wenig ängstlich.
Da haben Sie aber ein ganz anderes Selbstverständnis als die großen Pultstars früherer Jahrzehnte, die manchmal suggerierten, ohne sie sei die Musik gar nichts. Ganz blöde Frage: Denkt man da als Frau möglicherweise anders?
Jacquot: Nein, ich glaube, das ist einfach eine Entscheidung. Ich habe vor langer Zeit entschieden, ich mache meine Kunst für Menschen und mit Menschen. Als Dirigent ist man ohne das Orchester nichts. Das ist mir gleich am Anfang klargeworden. Ich kann da stehen und machen, was ich will, wenn die Musiker nicht mitmachen wollen, werde ich nichts bekommen. Ich glaube, man bekommt viel mehr mit Respekt, Toleranz und Kommunikation als mit apodiktischen Entscheidungen. Es kann sein, dass das mit manchen Menschen besser funktioniert, aber das ist ja das Faszinierende in meinem Beruf. Mit einem Menschen funktioniert es wunderbar, mit dem anderen überhaupt nicht.
Wovon hängt das ab?
Jacquot: Das hat viel mit unsichtbarer Kommunikation zu tun. Manchmal komme ich zu einem Orchester und denke, hm, das wird vielleicht nicht so einfach. Manchmal entwickelt sich dann etwas, manchmal auch nicht, und man denkt, das hat nicht geklappt. Nächstes Mal – in zehn Jahren sind andere Musiker da, die vielleicht eine ganz andere Gruppendynamik erzeugen können.
Worauf achten Sie als erstes, wenn Sie vor ein neues Orchester treten?
Jacquot: Ich weiß nicht... Ich bin einfach da, und wir machen uns gemeinsam auf einen Weg. Ich bin in der Musik und versuche, dass wir alle unsere Freude dabei haben. Dass es etwas Besonderes wird. Wir sind als Menschen zu verschiedenen Stationen unseres Lebens immer wieder anders, und deshalb muss auch die Interpretationen immer wieder anders sein.
Jeder Tag ist anders...
Jacquot: Natürlich. Ich habe Vorstellungen erlebt, wo ich sehr gut drauf war im Graben, und es ist nicht wirklich besonders geworden. Ich dachte, ich gebe 200 Prozent meiner Energie, und es kommt nichts zurück. Oder das Gegenteil: Ich war ein bisschen zu müde, und das Orchester hat fantastisch gespielt. Das spielen unendliche viele Faktoren eine Rolle.
Sie haben also keine Strategie, wie es sicher klappt?
Jacquot: Außer einem musikalischen Konzept, habe ich keine besondere Strategie. Meine Strategie ist, zusammen mit den Menschen das Beste rauszuholen. Was die Kunst betrifft und was uns Menschen betrifft.
In letzter Zeit wird das Thema Dirigentinnen verstärkt thematisiert. Stellen Sie das auch fest, findet da so etwas wie ein Bewusstseinswandel statt?
Jacquot: Ich bin immer wieder mit der Frage konfrontiert. Es tut sich was. Es gibt viele Gründe dafür, dass es so wenige Dirigentinnen gibt. Einer war, dass wir nicht viele Frauen als Vorbilder hatten. Ich brauchte das nicht, weil es für mich nie eine Rolle gespielt hat, ob ich eine Frau oder ein Mann bin als Dirigentin oder Posaunistin oder Tennisspielerin. Ich habe einfach getan, was mir getaugt hat, ohne mir zu sagen, das ist jetzt aber ein Männerberuf. Aber in unserer Erziehung ist nunmal festgelegt, dass manche Berufe mehr für Männer und andere mehr für Frauen sind. Das war lange Zeit auch beim Dirigieren so. Ich glaube aber, das ist nicht mehr aktuell. Es geht deutlich vorwärts. Die Frauen kommen im Fernsehen und sind am Dirigentenpult viel mehr zu erleben.
Letze Frage: Traumprojekt. Sie haben alle Ressourcen, die Sie brauchen. Was machen Sie?
Jacquot: Mein großer Wunsch ist es, ein Konzept zu entwickeln, wo die Musik Menschen helfen kann. Ich fühle mich nicht komplett als Künstlerin, wenn ich das nicht machen kann.
Was meinen Sie mit helfen?
Jacquot: Seelisch, psychisch, alles. Ich denke immer an eine Fernsehreportage mit Simon Rattle. Als er vor 15 Jahren in Berlin ankam, hat er ein Team gegründet, das in einen schwierigen Bezirk gegangen ist und mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet hat, um "Le Sacre du Printemps" zu tanzen. Das war sehr schwierig. Aber es hat das Leben von vielen jungen Menschen verändert. Sie haben Disziplin gelernt und dass man durch Arbeit etwas bekommt und sich besser fühlt. Wir stellen uns als Künstler zu oft an die erste Stelle. Das möchte ich vermeiden. Ich darf jetzt bei einem Konzert in Berlin mitmachen, am 24. März, es heißt "Unisono für Vielfalt – Konzert für eine offene Gesellschaft". Mitglieder aller sieben Berliner Orchester kommen zusammen. Es ist ein Benefizkonzert, voraussichtlich zugunsten von Musikern, die flüchten mussten und ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Matthias Brandt wird moderieren, wir spielen Stücke, die einen Bezug zu einem anderen Land haben. Ravel zu Spanien, Brahms zu Ungarn etwa. Bei diesem Projekt fühle ich mich - nicht wichtig, sondern gebraucht.