Man könnte eine Gesellschaft daran messen, wie sie mit denen umgeht, die nicht dazugehören. Die eine Macke haben. Die anders oder fremd sind. Die schwach sind. Man würde dann sehr schnell zu dem Schluss kommen, dass es – sollte kein Verlass auf grundlegende Regungen der Menschlichkeit sein – Regeln geben muss, um die zu schützen, die sich nicht selbst schützen können.
In Georg Büchners fragmentarischer Tragödie „Woyzeck“ gibt es solche Regeln nicht. Im Gegenteil: Allgemeine Absprache ist, dass nur der Rechte genießt, der Macht besitzt. Ein Regelwerk also, das selbstverständlich darauf angelegt ist, die auszubeuten und zu quälen, die nicht dazugehören.
Eine Art Zukunftsvision
Man kann den „Woyzeck“, entstanden um 1836, als historischen Text lesen, als konzentriertes Porträt einer vordemokratischen Gesellschaft, die noch einen langen Weg vor sich hat. Man kann „Woyzeck“ aber auch als eine Art Zukunftsvision sehen. Als soziales Experiment mit beispielhaft und unausweichlich festgelegten Rollen, passend zu einer Zeit, in der heftiger als seit langem darüber diskutiert wird, wer unter welchen Voraussetzungen wieviel Schutz genießen dürfen soll.
Martin Kindervater hat das Stück für das Mainfranken Theater Würzburg inszeniert, am Samstag war Premiere. In der Ausstattung von Sina Barbra Gentsch wirkt es tatsächlich wie eine Versuchsanordnung unter Laborbedingungen. Die Bühne ist ein klinisch weißer Raum, der nur über eine Öffnung im Boden betreten und verlassen werden kann. Über dieser Luke dräut ein schwarzes Gebilde auf wuchtig-kantigen Beinen.
Hier kann niemand Gnade erwarten
In dieser Welt ist niemand zu Hause. Doch im Gegensatz zu Woyzeck haben alle begriffen, dass hier nur überlebt, wer keine Gnade kennt. Weil im Gegenzug niemand Gnade zu erwarten hat. Gnade ist auch nur eine Form von Bindung, und Bindungen gibt es hier keine. Marie ist das auf eine tumbe, instinktive Art klar. Hannah Walther spielt sie von Anfang an als Abschiednehmende. Woyzeck ist für sie eine überwundene Episode. Dass sich der Tambourmajor (überzeugend übergriffig: Cedric von Borries) für sie interessiert, ist in diesem Kontext fast ein Glücksfall.
Der Hauptmann wiederum braucht Woyzeck nicht so sehr als eilfertigen Barbier (bei Kindervater enthaart er ihm die Beine, was eine schöne Metapher für eine irgendwie komische Art privater Dekadenz ist), sondern als Beleg seiner Position. Denn Hauptmann und Doktor (hier eine Doktorin) stehen in einer Konkurrenz der Grausamkeit. Meinolf Steiner und Maria Brendel gestalten ihre Begegnungen als giftiges Kräftemessen auf Kosten Woyzecks.
Woyzeck als hyperaktiver Moralist
Tatsächlich ist es schwer, für diesen Woyzeck Sympathie aufzubringen. Diesen hyperaktiven Moralisten, der offenbar ohne Gebrauchsanweisung in eine Welt katapultiert wurde, die sich keinen Deut für ihn (und auch für niemand sonst) interessiert. Doch Woyzeck fordert all das ein, was hier noch nicht einmal als Idee existiert: Liebe, Barmherzigkeit, Fürsorge, Treue, Anteilnahme. Ein Fieber muss das sein, anders ist solche Getriebenheit nicht zu erklären.
Andres, der ebenfalls Gequälte, aber opportunistisch Überlebensfähige (mit gut verborgener innerer Kraft: Georg Zeies), macht sich immerhin die Mühe, für dieses Fieber ein Mittel zu empfehlen (Schnaps mit weißem Pulver drin). Käthe hingegen wirkt wie der Prototyp der neuen Kälte. Helene Blechinger spielt sie als lustvoll Gleichgültige, was sie freilich nicht davor schützt, selbst zum Opfer zu werden.
Hannes Berg irrlichtert über die Bühne
Hannes Berg spielt den Woyzeck dagegen gar nicht so sehr als Opfer. Sehnig, wendig, energiegeladen und ausdauernd irrlichtert er über die Bühne. Im Grunde ist er sich seiner totalen Perspektivlosigkeit durchaus bewusst: „Wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen.“ Sein Defekt aber ist, dass er keine Filter hat, keine Schutzmechanismen, um die Abweichungen der Realität von seinen rudimentären moralischen Grundsätzen zu verarbeiten. Dass eine Sünde wie Maries Untreue ungesühnt bleibt, das erträgt er nicht.
Der Mord als beinahe sachlicher Akt
Wie dieser Konflikt endet, ist bekannt. Als deshalb Woyzeck eine Plastikfolie ausbreitet (unter der er mit Marie noch einen kurzen, illusionären Moment wie im Spiel oder im Tanz die Arme hochwirft), ergreift spürbare Beklemmung das Publikum. Aber als Woyzeck dann tatsächlich in einem leidenschaftslosen, beinahe sachlichen Akt auf dieser Folie stehend Marie von hinten die Kehle durchschneidet, geht dennoch ein erschrockenes Aufseufzen durch die Reihen.
90 Minuten ohne Pause – weder für die Personen noch für das Publikum. Ein intensives, forderndes und trotz seiner Hoffnungslosigkeit dennoch eigentümlich bannendes Erlebnis. Dieser „Woyzeck“ zeigt, dass in einer mitleidlosen Gesellschaft, wie sie hier dargestellt ist, eine getötete junge Frau im Grunde nur ein Kollateralschaden ist. Langanhaltender, nachdenklicher Applaus.