Friederike Heumann (55) ist seit dem Sommersemester Professorin für Historische Streicherkammermusik und Viola da gamba an der Würzburger Hochschule für Musik. Die international gefragte Solistin hat sich gemeinsam mit der türkischen Sängerin Nihan Devecioglu und dem spanischen Gitarristen Xavier Díaz-Latorre auf eine musikalische Reise zurück zu den Ursprüngen begeben. Ins 15. und 16. Jahrhundert, als Venedig die Schnittstelle zwischen Ost und West war – für Händler, aber auch für Künstler und Musiker. Daraus entstanden ist das Album "Nostalgia", auf dem byzantinische, sephardische, armenische und türkische Klänge dem westlichen Frühbarock begegnen. Es ist Musik, die gleichermaßen fremdartig und vertraut klingt. Und der Hörer versteht: Der Westen wäre nichts ohne die Wurzeln seiner Kunst im Osten.
Friederike Heumann: Die Wurzeln. Wenn man die Musik aus Konstantinopel oder die Volkslieder aus Armenien hört und die Verbindung zur italienischen Renaissance und zum Frühbarock herstellt, merkt man plötzlich, woher das alles kommt. Dass die westliche Kunstmusik nicht aus dem Nichts entstanden ist. Sondern, dass da gemeinsame Wurzeln sind. Vergleichen Sie die Verzierungen im italienischen und im arabischen Gesang seit dem Mittelalter. Sehr eng verwandt.
Heumann: Auch in der arabischen Musik ist die Melodie immer da: Die Verzierungen sind nur Belebungen im Rahmen des melodischen Spannungsbogens. Der Groove entsteht, wenn man die Melodie innerlich mithört und die Verzierungen organisch dazu wachsen. Dies gilt in gleicher Weise etwa für Verzierungen von Madrigalen der Renaissance bis hin zum langsamen Satz einer Corelli-Sonate.
Heumann: Dort gibt es dieses Epochendenken nicht. Während die westliche Philosophiegeschichte eine lineare ist, ist der Osten philosophisch mit dem Bild des Kreises verbunden – etwas, das in sich ruht und nicht in Abschnitte aufgeteilt ist. Faszinierend wird es da, wo diese Welten einander berühren: in Venedig, dem Treffpunkt zwischen Ost und West. Wo arabische Ornamente auf westliche Struktur stoßen, die Kulturen sich berühren und verschmelzen.
Heumann: Vermutlich, weil man generell auf Dinge herabblickt, die man nicht genug kennt. Aber das ist auch eine der Herausforderungen an so einem Programm: der soziokulturelle Aspekt. Dass man sich in eine Kultur und eine Art zu kommunizieren, die nicht die eigene ist. Das fängt schon damit an, wie man Proben organisiert. Oder wie man kommuniziert, um musikalisch etwas zu erreichen. Wenn das schon im Kleinen schwierig ist, wie mag das erst im Großen sein?
Heumann: Die größte Hürde für uns aus dem Westen ist die orale Tradition der nichtwestlichen Musik: Lernen durch Hören und auswendig Lernen. Eigene Sachen hinzufügen. Dagegen die westliche Variante: Man spielt von Noten und hat einen riesen Respekt vor der Partitur. Das führt zu Ängsten auf beiden Seiten. Die einen fürchten sich vor den Noten, die anderen sollen plötzlich in einem fremden Stil improvisieren. Aber wenn man neugierig bleibt und versucht, in die fremde Welt einzutauchen, dann ist das eine tolle Erfahrung. Deshalb finde ich den Austausch auch bis in die politische Ebene so wichtig: Je mehr man den anderen kennt und versteht, desto leichter wird die Verständigung.
Heumann: Was man als Alte-Musik-Musikerin tatsächlich von der Popmusik lernen kann, ist, dass es einen durchgehenden, stabilen Beat gibt. Dass Rubato, also Temposchwankungen um des Ausdrucks willen, diesen Beat a priori nicht verändern. Wenn man diesen inneren Puls teilt im Ensemble, dann kann man darüber schweben.
Heumann: Da spielt Forschung eine wichtige Rolle. Ich habe an der Schola Cantorum in Basel studiert, und dort lernt man, mit allem möglichst genau zu sein. Man versucht, die jeder Musik innewohnende spezifische Kommunikation ans Licht zu holen, ihre "Sprache" so genau wie möglich zu sprechen. Dazu kommt eine äußere Spurensuche. Der Notentext, die Sekundärquellen, der Kontext der ganzen Zeit. Bei diesem Programm habe ich in diesem Sinne bei Null angefangen – das war zunächst sehr irritierend. Ich war erst sehr befangen.
Heumann: Ich habe es gemacht wie unsere Sängerin Nihan Devecioglu, wenn sie neue Stücke lernt: So viel wie möglich hören. Versuchen, sich in diesen Stil hineinzubegeben, versuchen, den Gesang zu imitieren. Dann habe ich ein paar Leute zurate gezogen, die mit dieser Musik vertraut sind. Ich wollte einfach nicht komplett daneben liegen. Der arabische Cellist Khaled Bal'awi hat mir besonders dadurch geholfen, dass er mir geraten hat, Mut zu haben. Wenn man sich nicht selbst im Weg steht, wird es leichter.
Heumann: In der westlichen Tradition geht es darum, historische Stücke möglichst korrekt wiederzugeben – bloß nichts falsch machen. Die östliche Tradition kennt diese Art der "Rekonstruktion" anhand eines Notentextes nicht, dort geht die Tradition weiter. Die jahrhundertealten sephardischen Lieder etwa werden heute noch gesungen, dadurch werden sie zu Liedern unserer Zeit. Das hat mich sehr fasziniert.
Heumann: Ja, das hat sie schon. Weil ich mich generell mehr traue zu improvisieren. Das Werkzeug dazu hat man zwar schon im Studium gelernt, aber es ist ganz anders, wenn man in etwas getaucht wird, was komplett von der Improvisation lebt und wo es nichts gibt, woran man sich festhalten kann.
Heumann: Improvisieren finde ich sehr wichtig. Das biete ich den Studierenden an. Das interessiert nicht alle, es ist auch keine Pflicht. Aber es bringt die, die es wagen, ungeheuer weiter. Man muss ganz anders zuhören und lernt sein Instrument auf neue Weise kennen. Und, vielleicht das Wichtigste: Man lernt die Kompositionen von einer anderen Seite kennen. Man versteht besser, wie die barocken Kompositionen entstanden sind, inwieweit sie auf Improvisationselemente zurückzuführen sind.
Das Album: "Nostalgia – The Sea of Memories" (beim Label Accent), Frühbarock begegnet traditionellen mediterranen Liedern. Nihan Devecioglu (Gesang), Friederike Heumann (Viola da gamba und Lirone), Xavier Díaz-Latorre (Theorbe und Barockgitarre).