„Wauwau!“ Die kleine Felicitas patscht auf den braunen Hund in ihrem Bilderbuch. Ihre Augen schweifen weiter über die Seite, bleiben an der Zeichnung einer Frau mit grauem Dutt hängen. Die Zweijährige gluckst vor Freude: „Oma!“ Obwohl das Buch aus dem Jahr 1968 stammt, gelingt es ihm noch heute, Kinder zu begeistern. „Rundherum in meiner Stadt“ erhielt 1969 den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis. Es stammt von Zeichner Ali Mitgutsch, der am 21. August 80 Jahre alt wird.
Er gilt als Erfinder der „Wimmelbücher“ – und tatsächlich wimmelt es in seinen Büchern auf doppelseitigen Bildern von detailliert gemalten Szenen mit Menschen und Tieren. Es gibt sie in verschiedenen Größen, für Kinder teilweise lebensgroß. „Bilder zum Reinkriechen“, das sei als Kind sein Traum gewesen, erzählt der Münchner mit dem markanten weißen Bart. Stadt und Dorf, Gebirge und Gewässer: Mitgutsch entwirft Panoramen aus der Alltagswelt von Kindern.
Das Schwere am Einfachen
Kitaplatz-Knappheit oder Flüchtlinge: Brisante Themen finden sich in der Welt der Mitgutsch-Bilder nicht. „Das ist alles eine Frage der Deutung“, wehrt sich Mitgutsch. In manchen Bildern gebe es Ansätze, die sich kritisch mit der Gegenwart auseinandersetzen. „Denken Sie an das alte Ehepaar, das aus seinem Haus vertrieben wird, weil es einem Staudammbau weichen muss.“ Außerdem seien seine „Leser“ zwischen drei und fünf Jahre alt und fingen erst an, die Welt zu entdecken. „Wo Erwachsene Einfachheit sehen, sehen sie eine komplexe Welt“, erklärt Mitgutsch. „Etwas einfach zu machen ist schwer, und man sollte nie die Kraft des Einfachen unterschätzen.“
„Wimmelbücher sind bei Kindern so beliebt, weil sie ansprechend gestaltet sind und sich so viel darauf entdecken lässt“, erklärt Jürgen Lauffer, Geschäftsführer der Gesellschaft für Medienpädgogik und Kommunikationskultur (GMK) mit Sitz in Bielefeld die Faszination. Die bleibe auch bestehen, wenn die Wimmelmotive auf Tablets oder Computer übertragen werden. Tatsächlich gibt es die Bücher mittlerweile digital als Wimmelspiel-Apps.
Nächtliche Luftangriffe
Mitgutsch kommt 1935 in München zur Welt. Kurz nach seinem vierten Geburtstag beginnt der Zweite Weltkrieg. Angst im Luftschutzkeller prägt den kleinen Ali – aber auch die Trümmerlandschaft Schwabings als Abenteuerspielplatz. Nächtliche Luftangriffe gehören zu seinen frühesten Erinnerungen, beschreibt er in seinem Buch „Herzanzünder – Mein Leben als Kind“. Dass er als Kind häufig mit seiner sehr gläubigen Mutter auf Wallfahrten ging, spielt keine unwichtige Rolle. Denn dabei lernt Ali Dioramen kennen, Schaukästen mit Modellszenen, an die er sich lebhaft erinnert:
Sobald er fünf Pfennige in den kleinen Schaukasten wirft, geht ein Licht an und erleuchtet eine winzige Kirchenfassade. Dann öffnet sich eine Tür, auf einer Schiene fährt Bruder Konrad heraus und fällt auf die Knie. Er ertönen Glockenschläge, und aus dem geschnitzten Kirchturm erscheint das Jesuskind. „Für uns war das die reinste Zauberei.“
Mittlerweile gibt es zahlreiche Zeichner, die Wimmelbilder produzieren. Mitgutsch dagegen geht es ruhiger an und zeichnet ganz nach Lust und Laune. „Wenn ich nicht mehr mag, lasse ich den Stift ruhen“.