Das Mädchen kreischt hysterisch, während der weiße Lieferwagen anrollt. Mit einem lauten Knall war die Tür des Transporters hinter ihr zugefallen, als sie Kleider daraus holen wollte für ein Fotoshooting im Garten der Würzburger Residenz. Über den Berliner Ring verlässt der Wagen die Stadt. Panisch trommelt das Mädchen an das kleine Fenster in der Tür. Niemand hört sie. Keiner sieht sie.
Auf einer Wiese bei Weikersheim im Landkreis Tauberbischofsheim bleibt der Transporter stehen. Die Tür geht auf. Das Mädchen versucht zu fliehen. Dann ein hämisches Lachen. Ein goldener Dolch fährt auf das Mädchen im blauen Rollkragenpulli nieder. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mit jedem Stich wird das Schreien leiser – bis es im Blutbad verstummt. Szenen aus einem Splatter-Streifen, der 1971 in und um Würzburg entstand und die Stadt damit zur Wiege einer neuen Art von Horrorfilm machte – dem Giallo.
Anfang der 70er-Jahre fallen im Kino die letzten Tabus. Mit „Deep Throat“ und „Behind The Green Door“ kommen in den USA erstmals Pornofilme auf die große Leinwand. Auch andere Genres ziehen mit, thematisieren Sexualität offener. Mit dem Giallo (Italienisch für Gelb) reift in Italien ein komplett neues Genre, das Elemente des Horrorkinos mit einer oft abstrusen und stark sexuell gefärbten Thrillerhandlung verbindet.
Mord als ästhetisches Ereignis
Giallo leitet sich ab von den gelb eingebundenen Groschenromanen, deren reißerische Geschichten im Italien der 60er-Jahre sehr populär sind. Logik spielt eine untergeordnete Rolle: Giallos pendeln bewusst zwischen unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen, bis zur Ununterscheidbarkeit. Im Vordergrund steht das visuelle Spektakel. Ähnlich wie Hitchcock in „Psycho“, stilisiert der Giallo den Mord als ästhetisches Ereignis. Nur deutlich drastischer. Dunkle, oft maskierte Gestalten mit schwarzen Lederhandschuhen und Waffen, die auch Phallussymbole sein könnten, führen junge, attraktive Frauen ihrem tragischen Schicksal zu.
Mit „Grotte der vergessenen Leichen“ macht sich der junge Regisseur Emilio Miraglia 1971 einen Namen im neuen Genre. Die Kinokassen klingeln, das Publikum will mehr. „La Dama rossa uccide sette Volte“ heißt der neue Streifen: Die rote Dame tötet sieben Mal. Sie tötet mitten in Würzburg. Es geht um die verfeindeten Schwestern Kitty und Evelyn. Bei einem Streit kommt Evelyn ums Leben, scheinbar durch Kittys Verschulden. Die Familie vertuscht den Tod. Als Jahre später der Großvater stirbt, taucht eine Frau im roten Umhang auf. Sie beginnt, in Kittys Umfeld zu morden. Ist es die „Red Queen“, die der Legende nach alle 100 Jahre aufersteht und die Familie heimsucht? Oder etwa die tote Evelyn, die aus ihrem Grab zurückkehrt, um blutige Rache zu nehmen? Verstehen muss man das nicht. Es geht vor allem um intensive Szenen, um starke Bilder.
Mit den Blondinen Barbara Bouchet und Sybil Danning (lesen Sie dazu auch den Text unten) übernehmen zwei noch heute bekannte Schauspielerinnen die Rollen der Schwestern. Ausgestattet mit einem soliden Budget, macht sich Miraglia zusammen mit Art Director Lorenzo Baraldi auf die Suche nach Drehorten. „Die Idee war, im Ausland zu drehen. Wir sind durch ganz Europa gefahren“, sagt Baraldi heute, 37 Jahre danach. „Wir sind durch Frankreich, Holland, Belgien gefahren. Schließlich durch Deutschland. Wir haben viele schöne Schlösser gesehen“, sagt der 67-Jährige, der in Italien lebt.
Das Schloss in Weikersheim
Fündig werden die beiden in Weikersheim. Das Schloss scheint perfekt für ihr Vorhaben. Angetan vom barocken Prunk, wählen sie Würzburg als Basis für Crew und Schauspieler. „Es ist eine wunderschöne Stadt“, erinnert sich Marino Masé, der den Kommissar spielte. „Und viele Würzburger haben sich mit Begeisterung als Komparsen für den Film angeboten.“
Die Dreharbeiten dauern einen Monat. Da der Film in der Modebranche spielt, funktioniert Art Director Baraldi Würzburgs Stadttheater kurzerhand zum „Modehaus Springe“ um. Die plakativen Outfits dazu liefert die italienische Designerin Mila Schön. Im Garten der Residenz inszeniert Miraglia ein großes Modeshooting, das mit der Entführung nach und dem Mord in Weikersheim endet.
Der Film lehnt sich an den damaligen Massengeschmack an, heute ist die rote Dame nur in einer extrem raren deutschen Videofassung mit dem Titel „Horror House“ und als US-amerikanische DVD („Red Queen kills seven times“, www.xploitedcinema.com) erhältlich. Aus Sicht des 21. Jahrhunderts wirkt der Film möglicherweise zu abstrakt und für den Horrormarkt zu zahm. Aber „La Dama rossa“ ist wegweisendes Genrekino mit authentischem 70er-Jahre-Flair. Und wie viele Städte haben schon einen eigenen „Giallo“ im Regal?