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Wie wirklich ist die Wirklichkeit ? Von Platon bis Dalí
Wenn Sie glauben, die Welt sei so, wie Sie sie sehen, machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst: Künstler und Philosophen sehen das ganz anders. Und womöglich haben sie damit recht.
Fragment: Rechte Hand des „Mädchens mit der Nelke“. Wilhelm Leibl hatte das komplette Bild zersägt, weil die Proportionen nicht stimmten.
Foto: Staatl. Kunsthalle Karlsruhe, net | Fragment: Rechte Hand des „Mädchens mit der Nelke“. Wilhelm Leibl hatte das komplette Bild zersägt, weil die Proportionen nicht stimmten.
Ralph Heringlehner
Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 03.01.2014 17:11 Uhr

Glauben Sie an die Wirklichkeit? Daran also, dass es außerhalb Ihres Kopfes etwas gibt, das unabhängig von Ihnen existiert? Seien Sie sich nicht allzu sicher!

Seit Jahrtausenden arbeiten sich kluge Köpfe am Problem der Wirklichkeit ab und daran, ob und wie der Mensch sie erkennen kann. Der griechische Philosoph Platon (428/427 bis 348/47 vor Christus) stellte das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit anschaulich in seinem „Höhlengleichnis“ dar: Menschen sind so an die Wand einer Höhle gefesselt, dass sie nur die Schatten der Dinge sehen können. Die Dinge selbst – also die Wirklichkeit – bleiben ihnen vorenthalten. Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten Idealisten (von griechisch „Idéa“ = Urbild) wie Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer Weltbilder, bei denen der Mensch die Dinge nicht so sieht, wie sie sind, sondern so, wie sie seinem Bewusstsein erscheinen. Der Physiker Roger Penrose – einer der Lehrer von Stephen Hawking – entwickelte Ende des 20. Jahrhunderts eine Theorie, die philosophisch in Platon wurzelt.

Für das tägliche Leben hat all das keine Bedeutung. Schließlich kommen wir ganz gut durch den Alltag, wenn wir Platon, Kant und Schopenhauer vergessen und, ganz naiv, die Welt einfach so nehmen, wie wir sie wahrnehmen. Aber nehmen wir an, Sie wären Maler und möchten die Wirklichkeit darstellen. Dann können Sie sich zum Beispiel mit Staffelei, Leinwand und Pinsel vor eine Kirche stellen und die so abmalen, wie Sie sie sehen. Doch während Sie so vor sich hin pinseln, merken Sie, dass sich die Farben ändern: Im Morgenlicht sieht die Kirche anders aus als am hellen Nachmittag.

Sie können – wenn Sie Maler sind – Tageszeit, Wetter und Lichteinfall als unwichtig beiseiteschieben und ihr Bild von derartigen Nebensächlichkeiten befreien, von ihnen abstrahieren sozusagen. Wenn Sie gut sind, haben Sie dann die Idee einer Kirche auf die Leinwand gebracht, die rein äußerlich gar nicht mehr wie eine Kirche aussehen muss. Sie haben ein abstraktes Bild geschaffen.

Claude Monet (1840 bis 1926) versuchte das Problem anders zu lösen. Er malte die Westfassade der Kathedrale von Rouen 28 Mal zu verschiedenen Zeiten, um das jeweils unterschiedliche Licht einzufangen. Zur gleichen Zeit wie Monet und die anderen, vorwiegend französischen Impressionisten arbeitete in Deutschland Wilhelm Leibl (1844 bis 1900). Bilder des in Würzburg gestorbenen Künstlers und seiner Weggefährten sind im Würzburger Museum im Kulturspeicher zu sehen (siehe Kasten). Wer etwa vor dem „Bildnis der Frau Apotheker Binder“ steht, denkt im ersten Moment, da habe einer einfach abgemalt, was er vor sich gesehen hat, mit all den Problemen, die das mit sich bringt. Doch so einfach ist es auch hier nicht. „Meinem Principe gemäß, kömts nicht darauf an ,Was‘ sondern ,Wie‘“, schrieb Leibl an seine Mutter.

Wenn das Motiv als nahezu unwichtig zurücktritt, wenn es vor allem darum geht, Farbe und Form wirken zu lassen – dann will ein Maler mit seiner Kunst eine eigene Wirklichkeit erschaffen. Was ihn des Problems enthebt, die ihn umgebende Realität abbilden zu müssen. „Reinmalerisch“ nannte Leibl seine Vorgehensweise. „Das bedeutungslose Motiv soll die Malerei zur Konzentration auf ihre eigentliche Aufgabe führen“, schreibt der Kieler Kunsthistoriker Klaus Rohrandt im Katalog zur Würzburger Ausstellung.

In seinem Streben nach malerischer Perfektion im Detail verlor Leibl schon mal das große Ganze aus den Augen. Beim „Mädchen mit der Nelke“ misslangen ihm die Proportionen. Er zersägte die Holztafel. Die Fragmente – Hände, Kopf, Schulter – wirken wie eigenständige Werke. Losgelöst vom aus der sichtbaren Realität bekannten Zusammenhang, verwirklichen sie womöglich die Idee von der eigenständigen malerischen Wirklichkeit mehr als ein komplettes Bild.

„Fast wie ein Foto!“, könnte der Betrachter vor manchem Leibl-Werk ausrufen und denken: „Fotos bilden die Welt so ab, wie sie ist – und machen all die Philosophiererei überflüssig.“ Leider nein. Wer eine Digitalkamera nutzt, kennt das: Das Bild auf dem Display zeigt nur selten das Motiv so, wie es der Fotograf sieht. Also drückt er ein paar Knöpfe, verschiebt vielleicht die Farben ein wenig mehr in den Rotbereich – bis das Ergebnis der Empfindung entspricht. Womit er zeigt, dass Wirklichkeit, Empfindung und Abbildung auseinanderklaffen. Welche Wirklichkeit ist denn nun die wirkliche? Die des Fotos oder die in der (subjektiven) Vorstellung des Fotografen?

Abgesehen davon, dass ein nur zweidimensionales Bild nie ein Abbild der Wirklichkeit sein kann, geht es bei der Frage nach der Realität um mehr als ein paar Farb- und Lichtnuancen. Spätestens seit Einstein wissen wir, dass wir in einer (mindestens) vierdimensionalen Raumzeit leben. Die mit unseren Sinnen so zu erfassen, wie sie ist, ist unmöglich. Philosophen und Kunsttheoretiker haben auch in den nächsten paar tausend Jahren noch ausreichend Stoff zum Grübeln.

Salvador Dalí, der in seinen surrealistischen Bildern eine ganz eigene Art von Wirklichkeit baute, sah es radikal: „Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes.“

 
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