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Bad Neustadt
Wie schreibt man jeden Monat ein Lied? Pigors 100 Chansons
Acht Jahre lang hat Thomas Pigor zum Zeitgeschehen seinen Senf dazu gegeben - monatlich. Aber was heißt Senf? Song! Jetzt macht er Schluss mit der sehr besonderen Reihe.
Was singt man Monat für Monat über die Welt? Thomas Pigor am Schreibtisch.
Foto: Thomas Nitz | Was singt man Monat für Monat über die Welt? Thomas Pigor am Schreibtisch.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:43 Uhr

 Im Jahr 2010 fragte der SWR bei Thomas Pigor an: Ob er nicht eine Serie anfangen könne mit einem monatlichen Chanson. Der Deutschlandfunk stieg gleich mit ein, WDR, NDR und Ö1 übernahmen die Lieder auch recht oft. Und so schrieb der Musikkabarettist mit Rhöner Wurzeln also Monat für Monat ein aktuelles Lied und spielte es mit wechselnden Kollegen ein. Ein in seiner Art einmaliges Format: Text, Musik, Mischung, Einspielung – alles aus einer Hand und immer aktuell. Jetzt sind die 100 voll, in diesem Dezember macht Pigor mit der Reihe Schluss. Nicht ohne noch einmal zurückzublicken – mit einem Buch und den Chansons auf MP3 CD.

Frage: Herr Pigor, wieso eigentlich „Chanson“ des Monats – und nicht Song oder Lied?

Thomas Pigor: Der Begriff Song klingt im Deutschen nach Pop, Rock oder Singer/Songwriter, der Begriff Lied klingt altertümlich. Einen Jazz- oder Rap-Song würde man nicht als Lied bezeichnen. Im Französischen bedeutet „Chanson" zwar dasselbe wie „Song“ bei uns. Aber wenn wir „Chanson“ im Deutschen sagen, dann unterstreicht das einen entscheidenden Aspekt: Text und Musik sind gleichberechtigt. „Chanson“ weckt leider immer noch die Assoziation „Frankreich“ und musikalische Sprache à la Brel. Aber vom Kunstlied über Blasmusik, Hip-Hop und Salsa bis zum Death Metal kann man alles zu einem Chanson umstricken. Und das haben wir beim „Chanson des Monats“ getan.

Sie wollten als Musiker mehr Text? Und den aktuell?

Pigor: Wir haben in unseren Bühnenprogrammen immer einen gewissen Anteil an politischen Chansons gehabt. Auch zu aktuellen Themen. Das Problem bei den Bühnenprogrammen ist: Wenn man ein Chanson zu einem tagesaktuellen Thema schreibt, dann ist es vielleicht schon nach zwei Wochen überholt und man hat grade kein Konzert. Wenn aber Radiosender die Chansons zeitnah ausstrahlen, dann hat man auch für aktuelle Themen ein größeres Publikum. Das ist durchaus eine Motivation zum Schreiben.

Acht Jahre lang jeden Monat ein Lied – wussten Sie im Jahr 2010 eigentlich, auf was Sie sich da einlassen?

Pigor: Erst mal war das Ganze für ein Jahr angedacht. Dann haben wir entschieden, wir machen noch ein Jahr, und dann noch eins . . . Irgendwann habe ich gemerkt: Es ist ein wunderbares Forum, aber es ist auch sehr anstrengend. Da habe ich mir dann die sportliche Zahl 100 vorgenommen.

Anstrengend heißt?

Pigor: Pro Monat mindestens zehn Tage, um die Chansons zu erstellen. Und wenn dann noch nebenher die Bühnenprogramme laufen und ich fürs Theater schreibe, dann geht das auf Kosten der anderen Projekte. Das Spezielle beim Chanson des Monats ist halt, dass es sehr schnell gehen muss. Toll,war, dass ich dabei sehr viele Musiker kennengelernt habe.

Und die haben alle immer so schnell mitgemacht?

Pigor: Das war schon sehr besonders. Ich rufe an oder maile und frage: Kannst Du mir das bis morgen einspielen? Wenn gerade alle auf Tour waren, gab es eben Computersound. Ich habe Mundharmonikaspieler, Akkordeonistinnen, Bassklarinettisten, Streicherinnen kennengelernt, die nicht nur ihren Sound sondern auch ihre Musikalität in die Chansons mit eingebracht haben. Das kam der musikalischen Bandbreite enorm zugute. Und da war viel Spaß dabei.

Langweilig war es also nicht.

Pigor (lacht): Es war sehr anstrengend – aber langweilig überhaupt nicht, nein.

Haben Sie schon Wehmut?

Pigor: Im Moment noch nicht, weil ich noch viele andere Projekte gleichzeitig am Laufen habe. Aber es juckt mich schon wieder, neue Themen zu bearbeiten. Ich denke immer öfter: Mann, darüber könnte man jetzt ein Chanson des Monats schreiben!

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Der letzte heißt irgendwie dramatisch: „Krankheit und Tod“.

Pigor: Da sitze ich mit Tim Fischer in der Küche und wir essen zusammen ein Huhn. Wir haben es tatsächlich gekocht und gegessen. Und in verschiedenen Phasen der Zubereitung und Verspeisung haben wir die Kamera mitlaufen lassen.

Wie kamen Sie auf die Themen? Waren die vom Sender vorgegeben? Lesen Sie Zeitung? Lagen die auf der Straße? Träumen Sie die?

Pigor: Bis auf „vorgegeben“ ist alles richtig. Die Schwierigkeit ist, auf die Schnelle abzuschätzen, welches Thema genügend Substanz bietet, um es zu Ende bringen zu können. Ich habe oft genug ein vielversprechendes Thema angefangen und musste es wieder abbrechen.

Im Buch gibt’s ein Register mit allen Themen. Interessant. Besonders häufig aufgeführt: Deutschland, Rechtspopulismus, Flüchtlinge, Wahlen, Urlaub, Digitale Welt. Und: CSU. Die hatte wohl besonders viele Lieder verdient.

Pigor: Naja, was Kaspereien in der Politik betrifft, sind die doch seit Jahren ganz vorne dran. Die politische Situation hat sich aber auch verändert. Heute ist vieles nicht mehr selbstverständlich, was vor zehn Jahren gar nicht erst ausgesprochen werden musste.

„Baut den Palast der Republik wieder auf“ – wussten Sie da schon beim Schreiben, dass der Song Zug zum Pigor-Klassiker hat?

Pigor: So was ist nicht vorherzusehen. Auch nicht bei „Berlin Airport“ von September 2012. Der ist immer noch aktuell und wurde übrigens auch am meisten angeklickt in den verschiedenen Kopien, die im Netz unterwegs sind. „Burka Boogie Woogie“ ist auch so ein Hit geworden. Aber wie lang so ein Song hält, weiß man nicht. Und manchmal kommen sie ja auch wieder: zum Beispiel der „Brexit“-Song, der passt wieder wunderbar.

Seine Chansons sind (Zeit-)Geschichte: Thomas Pigor besingt das aktuelle Geschehen.
Foto: Thomas Nitz | Seine Chansons sind (Zeit-)Geschichte: Thomas Pigor besingt das aktuelle Geschehen.
Überhaupt, die fünf Stunden Songs hören sich an wie eine Chronik. Wer erinnert sich schon an „Herdprämie“, Pofalla, Finanztransaktionssteuer, „Ausländermaut“ oder „Ehec“? Oder zum Beispiel der starke Song „Gott ist tot“ . . .

Pigor: . . . eine Reaktion auf die Attentate von Charlie Hebdo. Die Idee hatte ich schon länger im Kopf, aber immer wieder vor mir hergeschoben. Und dann sind da explizit Satiriker ins Zielfeuer geraten, das ging mir nahe. Da konnte ich mich vor dem gottlosen Chanson nicht mehr drücken. Und ja, und dass man mal keine Sojasprossen mehr essen durfte . .

Gibt’s ein Thema, über das Sie nie singen wollten? Oder bei dem Ihnen überhaupt nichts einfallen würde?

Pigor: Wenn man den richtigen Dreh findet, ist im Prinzip alles vertonbar. Aber ich will auch nicht die Themen behandeln, worüber sich sowieso gerade alle lustig machen. Guttenberg oder Trumps Tweets oder Frisur oder so.

Und wieso wurden „Uhrangst“, „Fastenzeit“ und „Nationale Zugehörigkeit“ ihre Lieblingssongs?

Pigor: Unterschiedlich: ich glaube bei „Uhrangst“ und „Fastenzeit“ sind mir zwei textlich-musikalische Kleinode gelungen, die leicht untergehen, zwischen den spektakuläreren Chansons. Und „Nationale Zugehörigkeit“ halte ich inhaltlich für wichtig. Die Vertonung des „Wir-Gruppen“ -Konzeptes, das jedem Soziologen geläufig ist, das aber in der öffentlichen Diskussion um Nation, Heimat und Patriotismus keine Erwähnung findet. Das ist das Schöne am Text-Chanson: Man muss sich beim Singen nicht auf die einfachen Formeln beschränken.

Thomas Pigor
Der Kabarettist, Liedermacher und Komponist ist in Unsleben (Lkr. Rhön-Grabfeld) aufgewachsen, hat an der Uni Würzburg Chemie studiert und ist seit Ende der 1970er Jahre auf der Bühne unterwegs. Seit 1995 arbeitet er regelmäßig mit dem Pianisten und Kabarettisten Benedikt Eichhorn zusammen. Das erste Programm "Pigor singt, Benedikt Eichhorn muss begleiten" wird regelmäßig fortgesetzt. Er schreibt auch Texte und Musik für andere Künstler, u. a. für Tim Fischer, Max Raabe, Walter Moers, Queen Bee (Ina Müller), Désirée Nick oder die Missfits  Der 62-Jährige, der in Berlin lebt, ist mit etlichen Kabarett- und Kleinkunstpreisen dekoriert, in diesem Jahr erhielt er mit Benedikt Eichhorn den Salzburger Stier.
Seit 2010 komponierte Pigor für den SWR regelmäßig das Chanson des Monats rund um Themen der Zeitgeschichte, das später dann auch von anderen ARD-Anstalten und dem Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde. Jetzt gibt es das Ganze als Buch: "100 Chansons", 56 Seiten, mit beiliegender mp3-CD mit allen Chansons des Monats, 25 Euro.
 
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