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STOCKHOLM
Wie Nobelpreiskandidat Harold Pinter zu Harry Potter wurde
dpa
 |  aktualisiert: 29.09.2014 15:13 Uhr

Als die neue Nobeljurorin Sara Danius im September durch ein Einkaufszentrum mitten in Stockholm bummelt, drückt sie ihre Lederhandtasche fest an sich. Falls sich darin überhaupt Nobelpreis-Lektüre befindet, würde sie die wohl niemals bei einer Shoppingpause oder in der U-Bahn lesen – gerade um diese Zeit im Jahr nicht. Die Vergabe des Literaturnobelpreises steht kurz bevor. Mehr denn je stochern Branchenkenner und Journalisten im herbstlichen Schweden im Nebel, wenn es um die in diesen Tagen heißeste Frage geht: Wer bekommt die begehrteste Literaturauszeichnung der Welt?

Auf der größten Buchmesse Schwedens, in Göteborg, kursieren Ende September die Gerüchte – von unterhaltsam über abstrus bis gar nicht mal so abwegig. 36 neue Namen sind laut der Jury unter den Nominierungen, doch im Gespräch sind vor allem die alten. „Es wird wieder sehr viel über Swetlana Alexijewitsch gesprochen, mehr noch als letztes Jahr“, sagt der schwedische Verleger Svante Weyler.

Ihr Name war 2013 im Endspurt an die Spitzen der Wettlisten geschossen. Auf die weißrussische Autorin setzt auch Kulturredakteur Jens Liljestrand von der schwedischen Boulevardzeitung „Expressen“. „Ich glaube, sie wollen der literarischen Reportage den Preis geben. Es ist ein Genre, das noch nie ausgezeichnet wurde.“ Dass die Experten sich einig sind, dürfte die Schwedische Akademie, die den Preis vergibt, wenig beeindrucken. Wenn es um Formen gehe, sei der Bund aus 18 Mitgliedern so konservativ wie die Literatur selbst, sagt Weyler.

In einem ist „Die 18“ ausgesprochen gut: im Dichthalten. Strenge Regeln und Decknamen für die Autoren in den geheimen Beratungen sorgen dafür, dass die Außenwelt nicht einmal den Hauch einer Ahnung bekommt. „Harold Pinter nannten sie 'Harry Potter'“, sagt Weyler. Er ist sich sicher, dass die Lippen der Juroren auch diesmal versiegelt bleiben. „Nichts wird herausdringen, und wenn es das tut, kann man davon ausgehen, dass es eine falsche Spur ist.“

Der Ständige Sekretär der Akademie, Peter Englund, gibt in diesem Jahr erst gar keine Interviews vor der Bekanntgabe. Auf der Buchmesse hingen Journalisten ihm und seinen Kollegen trotzdem an den Lippen. „Das ist wie bei der Sphinx: Zwei Worte fallen, und dann wird diskutiert. Die Geheimnis-Bande hat ihre Freude daran“, sagt Weyler. Wettlisten im Internet machten es Medien aber zugleich einfacher, meint Elise Karlsson, Kulturredakteurin beim „Svenska Dagbladet“. Diese führt seit Jahren der „ewige Favorit“ Haruki Murakami an. Immer ging der Japaner leer aus. Ihm auf den Fersen ist nach Wettquoten der Kenianer Ngugi Wa Thiong'o – ein aussichtsreicher Kandidat, meint Karlsson: „Er ist einer der stärksten afrikanischen Autoren, und der Kontinent ist lange missachtet worden.“ Missachtet wird nach Ansicht vieler Kritiker auch die Riege US-amerikanischer Nobel-Anwärter wie Philip Roth, Thomas Pynchon oder Joyce Carol Oates. Mit der Kurzgeschichtenautorin Alice Munro ging der prestigeträchtige Preis 2013 immerhin an eine Kanadierin.

Deutschsprachige Autoren machen sich dagegen schon auf den Wettlisten rar – mit Ausnahme des Österreichers Peter Handke. Der Schriftsteller steht aber wegen seiner Pro-Serbien-Haltung im Zwielicht. Bei der Verleihung des norwegischen Ibsen-Preises war er dafür kürzlich ausgebuht worden. „Er ist auch literarisch umstritten“, meint Weyler.

Der langjährige Chef des Hanser-Verlags, Michael Krüger, führt Handke trotzdem auf seiner Favoritenliste, genau wie den deutschen Dramatiker Botho Strauß. Schriftsteller Uwe Tellkamp kann sich nicht nur etwa die Rumänin Mircea Cartarescu für ihre „Orbitor“-Trilogie als Nobelpreisträger(in) vorstellen, sondern auch Joanne K. Rowling für die „Harry Potter“-Reihe. Das seien „jene Bücher unserer Zeit, die sich den großen Leistungen der Vergangenheit ohne Bedenken an die Seite stellen lassen“, lässt er wissen.

Bei den Online-Tippern fällt die literarische Mutter des Zauberlehrlings dagegen durch. Behalten die Zocker Recht? Tappen die Kenner im Dunkeln? Gelüftet wird dieses Rätsel erst an einem Donnerstag in der ersten Oktoberhälfte – an welchem, verrät die Akademie nicht. Erfahrungsgemäß dürfte es aber jener Donnerstag sein, an dem die Frankfurter Buchmesse (in diesem Jahr der 9. Oktober) beginnt. Die Geheimniskrämerei sei eben auch ein Schlüssel zum Erfolg des Preises, meint Weyler: „Sie hat sich ja gelohnt, wir sitzen da und spekulieren.“

Die Spannung sollte die Literaturwelt aber mit Genuss aushalten – würde jedenfalls der Träger eines anderen Nobelpreises, Physik-Genie Albert Einstein, raten. Er fand: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“

 
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