
Es gibt wohl keinen Komponisten (außer vielleicht Mozart), an dem sich Musiker und Wissenschaftler seit Jahrhunderten so abarbeiten wie an Johann Sebastian Bach. Nicht unbedingt, weil er besonders schwer zu spielen wäre. Da gibt es weit härtere Aufgaben. Sondern, weil diese Musik zu einer Zeit entstanden ist, in der alles anders war: Instrumente, Spieltechniken, Ausdruck, Auftrittsmöglichkeiten und -anlässe, Ensemblegrößen und nicht zuletzt das Berufsbild des Musikers.

Wie klang Bach damals? Wie soll er heute klingen? Möglichst so wie damals? Geht das überhaupt? Und war Bach damals zufrieden, wie seine Werke gespielt wurden? Oder ist es heute nicht Aufgabe der Interpreten, ein eigenes, zeitgemäßes Bach-Verständnis zu entwickeln?
Ein Flügel stand Bach wohlgemerkt nicht zur Verfügung. Er spielte Orgel, Clavichord, Spinett und Cembalo. Das Hammerklavier, Vorläufer des heutigen Flügel, setzten erst Mozart und Haydn ein. "Wer Bach am modernen Flügel spielt, steckt also unweigerlich in einer Zwickmühle", sagt die Pianistin Inge Rosar. Rosar ist Professorin an der Hochschule für Musik Würzburg und, zusammen mit Kirill Monorosi, künstlerische Leiterin der International Bach Competition, also des internationalen Bach-Wettbewerbs Würzburg, der ab kommenden Montag, 11. März, zum zehnten Mal stattfindet.
Streicher und Bläser tun sich mit umgebauten Instrumenten, Barockbögen und Darmsaiten leichter, historische Klänge zu rekonstruieren. Seit Jahrzehnten sind außerdem historisch informierte und bewusst eingesetzte Phrasierungen und Dynamik auch auf konventionellen Instrumenten die Regel. Doch Pianisten setzen bis heute den Flügel meist unbekümmert und mit all seinen dynamischen Möglichkeiten ein, hat Inge Rosar auf den vielen Bach-Meisterkursen festgestellt, die sie in aller Welt gibt: "Wenn sie mit der Situation hadern würden, wären wir schon einen Schritt weiter."
Der Würzburger Wettbewerb versteht sich auch als Diskussionsplattform
Der alle drei Jahre stattfindende Wettbewerb, der weltgrößte seiner Art übrigens, versteht sich als Plattform, um genau diese Frage zu diskutieren: Wie sollte man Bach heute spielen? "Wir wissen es auch nicht", sagt Inge Rosar, "aber wir machen Vorschläge, benennen Möglichkeiten." Etwa in der eigenen Edition, die der Wettbewerb herausgibt. Denn einiges lasse sich nach vielen Jahrzehnten der Forschung heute durchaus belegen. Etwa: "Fast alle Verzierungen sind auf den Schlag zu spielen und nicht vorher, wie vielfach immer noch üblich. Mit diesem Satz werde ich begraben werden", lacht Inge Rosar.
Nicht im Sinne des Schöpfers sind auch die großzügigen Crescendi und sonstigen Vortragszeichen, wie sie in den Bach-Editionen im Geiste der Romantik wie der von Feruccio Busoni auftauchen. "Man praktizierte zu Bachs Zeiten die Stufendynamik", erklärt Inge Rosar, "und wenn man sich klarmacht, dass das Tutti unweigerlich lauter klingt als die Solisten, dann leuchtet das auch ein."
Die sogenannten Urtext-Editionen wiederum beschränken sich auf den reinen Notentext und lassen den Interpreten allein mit Fragen der Gestaltung und des Ausdrucks. Also greifen die Pianisten dann doch zu den Bearbeitungen: "Wenn ich bei uns in der Hochschule in die Bibliothek schaue, dann sind Busoni und andere zerfleddert, die Urtext-Ausgaben sehen unbenutzt aus."
Die Entwicklung der Bach-Interpretation ist heute auch dank Youtube gut nachvollziehbar. Es fällt zum Beispiel auf, dass Vertreter früherer Generationen wie Emil Gilels (1916-1985) oder Vladimir Horowitz (1903-1989) Bach oft in Bearbeitungen spielen, also offenbar dem Urtext nicht wirklich vertrauen. Frischer Wind kommt mit dem Rebell Glenn Gould (1932-1982), der vermutlich alle nachfolgenden Generationen in irgendeiner Weise beeinflusst hat.
Bach-Interpretation unterscheidet sich stark in einzelnen Ländern und Kontinenten
Bis heute aber wird Bach weder an den Hochschulen noch auf den Konzertpodien oft gespielt, auch die großen Stars von heute profilieren sich eher selten mit Bach. "Man kann sich damit nicht so gut als Person präsentieren", sagt Inge Rosar, "Bach ist nicht so geeignet, das Publikum zu begeistern." Also spielen Solisten lieber Beethoven oder gleich richtig Effektvolles wie Chopin, Liszt oder Rachmaninow. Und wenn es schon ein wenig Barock sein soll, greifen sie auf Scarlatti zurück.
In Würzburg sind die jungen Pianistinnen und Pianisten ausdrücklich aufgefordert, ihre eigenen Interpretationen vorzustellen – die sich erfahrungsgemäß in Ländern und Kontinenten stark unterscheiden. So soll ein Diskurs jenseits des Konkurrenzdenkens entstehen, der schließlich auch neue Maßstäbe setzt. "Das gibt es nur bei uns, dass Menschen gemeinsam in einen Raum gehen und sich gegenseitig Bach vorspielen. Das war von Anfang an so", erzählt Inge Rosar. "Bachpianisten sind wohl einfach anders gestrickt."
Wer in der ersten Runde ausscheidet, kann sich von der Jury erklären lassen, warum. "Wir sind um größtmögliche Fairness und Transparenz bemüht", sagt Inge Rosar. Deshalb auch kämen viele Bewerber wieder, unter ihnen sogar Preisträger, manche bis zu vier Mal. Diesmal sind 17 Teilnehmer dabei, die schon mal da waren. Neu ist diesmal, dass in der dritten Runde von Noten gespielt werden darf. Das soll den Fokus von der reinen Gedächtnisleistung auf die Interpretation lenken. "Wir wollten das mal ausprobieren. Auch um wegzukommen von der Auffassung, dass einer, der nicht auswendig spielt, sein Zeug nicht kann. Andere Musiker spielen ja auch von Noten", sagt Inge Rosar.
Neu ist auch, dass der vierte Durchgang mit Orchesterbegleitung stattfindet. Das Orchester des Staatlichen Instituts "Schnittke" aus Moskau habe unbedingt Teil des Wettbewerbs werden wollen, erzählt Inge Rosar. Nun sind russische Ensembles nicht unbedingt für innovative Bach-Interpretation bekannt. Aber man hat wohl eine gemeinsame Ebene gefunden. Inge Rosar und Kirill Monorosi hatten drei Doppelkonzerte mit dem Orchester eingespielt und gleich die Tempo-Frage gestellt: "Das Ensemble spielte 60 Viertel pro Minute, wir 80, also viel schneller. Das fanden alle spontan viel schöner. Und der Dirigent hat gesagt, 'Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen'."
Zum Wettbewerb kommen übrigens Bach-Spezialisten wie Generalisten, die auch anderes Repertoire spielen. Allerdings niemand, der mal eben noch einen Bach-Wettbewerb mitnimmt, bevor er sich wieder der Hochromantik zuwendet. "Es sind ja fast zweieinhalb Stunden Musik gefordert, das ist eine Menge. Wer Bach nicht mag, hält das nicht durch", sagt Inge Rosar.