
Nur wenige Sendungen haben das deutsche Kinderfernsehen so beeinflusst wie die „Sesamstraße“. Seit dem 8. Januar 1973 werden die Sendungen um Ernie und Bert, Bibo und Oskar aus der Mülltonne in Deutschland ausgestrahlt.
Der Start der Sesamstraße war eine kleine Revolution. Wenn Menschen um die 50 Fernsehklassiker aus ihrer Kindheit aufzählen sollen, erinnern sie sich vor allem an US-Serien wie „Bonanza“, „Lassie“, „Daktari“ oder „Flipper“. Denn das deutsche Kinderprogramm der 60er Jahre war betulich und tantenhaft. Die Kinder sollten ihre freie Zeit nicht vor dem Fernseher verbringen, sondern mit sinnvolleren Tätigkeiten. Die Produktion von Sendungen für Vorschulkinder war sogar ausdrücklich verboten.
Gesellschaftliche Umwälzungen
Das änderte sich erst, als infolge der gesellschaftlichen Umwälzungen ab 1968 auch in den Rundfunkanstalten ein anderer Wind wehte. Maßgeblichen Anteil am Umdenken in den Kinderredaktionen hatte eine Produktion aus den USA: die Sesamstraße. Im Herbst 1969 wurde in Amerika die erste Ausgabe von „Sesame Street“ ausgestrahlt. Das Konzept verdankte seine Existenz einer Erkenntnis aus der Medienforschung: Als sich herausstellte, dass Kinder die Melodien aus den Werbespots besser behielten als den Inhalt des Programms drumherum, war die Idee geboren, das Fernsehen unterhaltsam für die Bildung zu nutzen. Heute spricht man von „Edutainment“.
In Deutschland war der Import der Reihe zunächst allerdings umstritten. Kritiker monierten, dass die Lebensumstände in Amerika und Deutschland nicht miteinander zu vergleichen seien, Pädagogen störten sich an der Philosophie der vielen Wiederholungen. Für den Bayerischen Lehrerverband war die Reihe ein „Werbe-, Drill- und Überredungsprogramm“. Der Bayerische Rundfunk protestierte energisch gegen eine Ausstrahlung im ersten Programm und verzichtete auf die Wiederholung im „Dritten“.
Doch auch er konnte nicht verhindern, dass sich das deutsche Kinderfernsehen fortan wandelte – nicht radikal und von heute auf morgen, aber dennoch unaufhaltsam. Im Rückblick zeigt sich die Wendung von der Erwachsenen- zur Kinderperspektive.
„In den Anfangsjahrzehnten des Kinderfernsehens waren die Inhalte und deren Aufbereitung sehr deutlich vom Anliegen der Erwachsenen geprägt“, sagt Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen in München. Gezeigt wurde, was Erwachsene für gut und wichtig hielten. „Der pädagogische Zeigefinger war deutlich spürbar“, sagt Götz.
Spätestens mit der Ausweitung des Angebots in eigenen Kindersendern sei es dann „zunehmend wichtiger geworden, sich darauf einzulassen, was Kinder freiwillig und gerne sehen“. Daher wirke das heutige Kinderprogramm aus Sicht Erwachsener „oft weniger pädagogisch wertvoll, weil es mehr Rücksicht auf die kindlichen Interessen als auf die Sehgewohnheiten der Eltern nimmt“. Kinderfernsehen sei heute zudem viel kommerzieller angelegt, bilanziert die Expertin die vergangenen 40 Jahre: „Es bietet neben dem Magazin und dem Buch zur Sendung auch den Kinofilm, das Computerspiel und natürlich diverse Alltagsgegenstände mit den Sendungskonterfeis.“
Online-Angebote zu den Sendungen gehören mittlerweile zum Standard und machen auch etwas anderes möglich: die Kinder werden zur Mitgestaltung eingeladen. Basis dieses Wandels war ein Glaubensstreit in den 70er Jahren, der nicht zuletzt durch die „Sesamstraße“ ausgelöst wurde: Die Medienpädagogen unter den Redakteuren für Kinderfernsehen waren der Meinung, wenn Kinder schon Lebenszeit ans Fernsehen verschwendeten, dann müssten sie dabei auch fürs Leben lernen.
Ein Recht auf Unterhaltung
Zur Gegenseite gehörte unter anderem Gert K. Müntefering vom WDR. Der Erfinder der „Sendung mit der Maus“ prägte einen Aphorismus, der lange als Mantra galt: „Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen.“ Seine Botschaft: Auch Kinder haben ein Recht auf Unterhaltung, das Fernsehen sollte keine Fortsetzung des Schulunterrichts mit anderen Mitteln sein.
Dabei kann das Fernsehen laut Götz durchaus eine Bildungshilfe sein: „Einfache Lernergebnisse lassen sich sogar relativ leicht erzielen.“ Beim Schulerfolg aber helfen sie wenig, urteilt sie: „Von den Menschen in ihrer Umgebung lernen die Kinder viel mehr als vom Fernsehen.“ Den Kindern dürften solche Debatten egal sein: Sie lieben Ernie und Bert, weil sie lustig sind.
Die Sesamstraße
Motto der Sesamstraße: „Der, die, das. Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Puppenspieler Jim Henson wollte eigentlich nicht. „Er hasste die Idee, ein Kleinkinderstar zu sein, aber dann hat er an seine eigenen Kinder gedacht und zugesagt“, sagt Sesamstraßen-Gründerin Joan Ganz Cooney. Henson war mit seinen Puppen schon damals sehr erfolgreich, machte aber hauptsächlich Werbung.
Die Idee zur Sesamstraße kam bei einer Dinnerparty 1966 auf. TV-Produzentin Cooney und Psychologe Lloyd Morrisett sprachen darüber, ob man Kindern via Fernsehen was beibringen könnte. Helden der Serie waren von Anfang an die Puppen. Noch immer werden sie in New York gebaut. „Wann immer neue Geschichten für die Sesamstraße gedreht werden, müssen die Puppen, die mitspielen, in New York beim Sesame Workshop, dem Mutterhaus der Sesamstraße, bestellt werden“, berichten die deutschen Macher. „Sie kommen dann in Kisten verpackt herübergeflogen.“
Und noch immer werden sie in Handarbeit gefertigt. „Das Schwierigste ist der Mund“, sagt eine Puppenbauerin. Immer wieder treten Prominente auf: Ob die Schauspieler Lieselotte Pulver oder Horst Janson in den früheren Jahren oder Dirk Bach von 2000 bis 2007 als Zauberer Pepe. Otto Waalkes und Barbara Schöneberger standen als Regenmann und Sonnenfrau in Ellas Wetterhäuschen, und Olli Dittrich gab Rumpels Kratzbüste. Musiker wie Herbert Grönemeyer, Jan Delay und Xavier Naidoo sangen mit Ernie und Bert. Text: dpa
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