Ernst Toller könnte einem zum Seelenverwandten werden: Die orthodoxen Linken hielten den durch seine Kriegserfahrungen radikal desillusionierten Künstler für einen Verräter, die Rechten denunzierten ihn als Bolschewisten. Auch später steckten ihn Dogmatiker jeglicher Couleur in die jeweils passende Schublade. Hätten sie sein während mehrjähriger Festungshaft 1922 geschriebenes Hauptwerk „Hinkemann“ – jetzt in den Meininger Kammerspielen zu sehen – verstehen wollen, würden sie erkannt haben, was ihm am Allerwichtigsten war: Dem Schwächsten der Gesellschaft eine Stimme zu geben – dem „namenlosen Proleten, von dem kein Ruhmesbuch meldet, keine Revolutionsgeschichte, kein Parteilexikon“.
Das Drama offenbart drastisch die Verlorenheit eines einfachen Menschen, der „für Volk und Vaterland“ kämpfte und als Krüppel nach Hause kam, um dort nichts als Gleichgültigkeit, Hohn und Spott zu erfahren. Ihm wurde sein Geschlecht weggeschossen. Nun fürchtet er nichts mehr als Lächerlichkeit. Allein, wer von der unwürdigen Behandlung kriegstraumatisierter amerikanischer Vietnam-Veteranen weiß, ahnt dass sich Tollers Tragödie weit über die Geschichte aus der Weimarer Republik und weit über ein Soldatenschicksal hinaus ausdehnen lässt.
Weißer Wandschrank auf weißer Spielfläche
Diesen Eindruck vermitteln auch das zeitlose Bühnenbild von Christian Rinke, die musikalisch-technischen Finessen und das proletarisch anmutende Jeansstoff- und Rotschopfoutfit, in das Kerstin Jacobssen die Figuren in Tobias Rotts Inszenierung steckt. Die Kulisse ist nichts weiter als ein weißer Wandschrank auf weißer Spielfläche, dessen Türen sich wie zu einer Welt hinter der Welt öffnen. Wenige Accessoires symbolisieren die Primitivität der Behausung und den Handlungsort Rummelplatz.
Um sich und seine geliebte Grete (Nora Hickler) durchzubringen, hat sich Hinkemann gegen alle inneren Widerstände als Jahrmarktsfigur verdingt. Mit nacktem Oberkörper mimt er den deutschen Helden, der lebendigen Ratten und Mäusen die Kehle durchbeißt. Die Rolle ist eine immense Herausforderung für Vivian Frey. Und er meistert sie. Eindreiviertel Stunden ohne Pause drängt er das Innerste seiner Figur nach außen, die Ängste, die Komplexe, die Verzweiflung, die Bekenntnisse und messerscharfen Erkenntnisse.
Eine eiskalte Welt der Entfremdung
Als Zuschauer glaubt man der Vivisektion einer Seele beizuwohnen. Diese eiskalte Welt der Entfremdung zerrt Toller mit expressionistischer Überhöhung schmerzhaft ins Blickfeld. Tobias Rott und sein Ensemble tun es ihm gleich. Nora Hickler, Peter Bernhardt, Björn Boresch, Georg Grohmann und Yannick Fischer verwandeln sich immer wieder, um Hinkemanns Welt zu typisieren, seine Mutter, seine alten Genossen, den Liebhaber seiner Frau und und und. Ja, sie vereinigen sich sogar zum Volkschor der Gleichgültigen, der zu harten elektronischen Beats im Rhythmus rockt.
Manchmal empfindet man als Zuschauer dabei ein Zuviel an Abstraktion, auch ein Zuviel an moralischer Grundsatzerklärung. Aber wer berücksichtigt, unter welchen Umständen Toller das Stück verfasst hat, während sich draußen die Massen fanatisierten, wird den Überfluss seiner Botschaften verstehen: „Alle Dramen, die ich im Gefängnis schrieb“, bekannte er, „leiden an einem Zuviel.“
Nächste Vorstellungen: 11. und 19. Oktober, 19.30 Uhr. Kartentelefon: (03693) 451 222. www.meininger-staatstheater.de