Plötzlich ist da dieses Gefühl. Dass alles um mich herum gar nicht wirklich ist, sondern nur in meiner Einbildung existiert: die Treppen, die ich gerade herabgestiegen bin, der Boden, auf dem ich scheinbar fest stehe, die gefütterte Jacke, in der's mir langsam zu warm wird hier, im Untergeschoss der Schwäbisch Haller Kunsthalle Würth.
Offenbar leide ich an einem akuten Anfall von Solipsismus. Soll heißen: Ich glaube, die ganze Welt einschließlich meiner Person, gibt es nicht wirklich. Sie existiert nur in meinem Gehirn. Das könnte – ähnlich wie in dem fantastischen Film „Matrix“ – irgendwo in einer Nährlösung schwimmen, angeschlossen an Versorgungsleitungen. Schuld an diesem Anfall von Solipsismus (den Philosophen auch „Subjektiven Idealismus“ nennen) ist ein Mann namens Patrick Hughes. Dessen Bilder, Teil der Ausstellung „Op Art Kinetik Licht“ in der Kunsthalle Würth (siehe Kasten), lassen an der eigenen Wahrnehmung zweifeln, wecken Misstrauen an der eigenen Sicht auf die Welt.
Der Meister der Illusion
Es fing ganz harmlos an. Ich ging auf das Bild „Tea Shop“ zu. Sieht aus wie eine bunte, bemalte Fläche, die perspektivische Innenraumansichten zeigt. „Nett“, dachte ich, wollte weitergehen, drehte den Kopf und . . . der „Tea Shop“ schien aus den Fugen geraten. Die Perspektive wechselte. Der rote Vorhang, das Kuchenstillleben links, die Auslage des Tea-Shops schienen sich plötzlich zu bewegen und neue Positionen einzunehmen. Der Effekt wurde stärker, wenn ich nicht nur den Kopf drehte, sondern – das Bild im Blick – daran vorbeiflanierte. Von der Seite betrachtend erkannte ich den Trick, den der Künstler aus London nutzt, um die Sinne zu narren: Das Bild ist nicht zweidimensional, sondern dreidimensional. Aber Hughes hat nicht einfach Räume a la Puppenstube nachgebaut. Es ist witziger, hintersinniger, komplizierter und steckt so voll Wahrnehmungspsychologie, dass dem 75-jährigen Meister der Illusion von der Universität London ein Doktortitel ehrenhalber verliehen wurde.
Im Prinzip hat Hughes den Raum umgestülpt. Denn das, was, dem Auge als am weitesten entfernt erscheint, ist in der Wirklichkeit dem Betrachter am nächsten. Das Gehirn aber kann mit dem Bild, welches das Auge liefert, nichts anfangen. Also formt es den Raum nach dem bekannten Muster, tut so, als seien vorne und hinten nicht vertauscht. Das klappt aber nicht so richtig. Denn wenn sich der Betrachter bewegt, verändert sich durch die Umstülpung die Perspektive wesentlich schneller als bei einem herkömmlichen Raum. Und das verwirrt.
Hughes entdeckte das Prinzip des „inside out“, wie er es in einem Film nennt, der in der Ausstellung zu sehen ist, als er eine Kupferplatte polierte, in die ein Segelschiff geprägt war. Auf der Rückseite der Platte waren die Segel natürlich in die Gegenrichtung gedrückt, konvex statt konkav. Das, fand Hughes, sah wesentlich interessanter aus, und er begann, sein Konzept zu entwickeln, das er „reverspectives“ nannte, eine Wortschöpfung aus „reverse“ (Umkehrung) und „perspective“ (Perspektive).
Op-Artisten geht's, wie der Name sagt, um die optische Wirkung ihrer Werke. Sie wollen – sehr sympathisch – keine Ideologie, keine Religion aufdrängen. Aussagelos oder gar nichtssagend müssen die Werke dennoch nicht sein. Patrick Hughes lädt durchaus zum Nachdenken über Welt und Mensch ein. Nicht nur mit all der Wahrnehmungspsychologie, sondern in einem ganz simplen, wörtlichen Sinn: Wer ab und zu den Standpunkt wechselt, sieht völlig neue Perspektiven. Oder: Zweifeln an dem, was man angeblich sicher weiß, schadet nie – auch wenn man sich einbildet, es richtig zu sehen. Oder: In „Floating Door“ öffnen sich beim Vorübergehen sechs rote Türen und geben den Blick auf ein Bergpanorama frei: Man muss nur den Blickwinkel wechseln – und schon öffnen sich Türen. Wer will, kann das in übertragenem Sinne verstehen.
Mein Hirn schaltet um
Ich positioniere mich erneut vor Hughes famosem „Tea Shop“. Bewege mich. Nach links, nach rechts. Vorwärts, rückwärts. So sehr ich mich auch anstrenge: Obwohl ich weiß, wie das Bild konstruiert ist – es narrt mich immer wieder. Ich krieg's nicht hin, es so zu sehen, wie es wirklich ist. Mein Hirn schaltet immer wieder auf die gewohnte, aber gar nicht existente Räumlichkeit um.
Kein Wunder, dass der Solipsismus mich gepackt hat, denn: Wenn meine Sinne mit simpler Ölfarbe und einer Holzkonstruktion zu täuschen sind: Wer sagt mir, dass sie mich nur bei Hughes-Werken täuschen, und nicht bei allem, was ich wahrnehme? Wer sagt mir denn, dass die Wirklichkeit so ist, wie ich sie sehe? Wer garantiert mir, dass ich mir das nicht alles nur einbilde? Nicht nur der „Tea Shop“ – meine ganze Welt schien aus den Fugen geraten.
Gegen Solipsismus helfen keine Argumente. Er ist womöglich das einzige philosophische Konstrukt, das sich nicht mit Logik widerlegen lässt. Weil der Solipsist jedem, der ihm mit Gegenargumenten kommt, entgegenhält: „Auch du bist ja bloß Teil meiner Einbildung.“
Am besten, ich bilde mir erst Mal ein gemütliches Café ein.
Op Art bei Würth
Kinetische Kunst und Op Art, so die Kurzform für „Optical Art“, waren internationale Bewegungen der 1950er und 1960er Jahre. Mithilfe präziser abstrakter Formmuster und geometrischer Farbfiguren wollten die Künstler überraschende oder irritierende optische Effekte erzeugen.
Die umfangreiche Ausstellung „Op Art Kinetik Licht“ in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall zeigt unter anderem Werke von Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely, Günther Uecker und Viktor Vasarely. Der britische Künstler Patrick Hughes ist mit mehreren großformatigen Arbeiten vertreten.
Öffnungszeiten: Täglich 10–18 Uhr. Bis 28. März. Parallel zur Op-Art-Schau ist bis 18. September die Ausstellung „Max und Moritz treffen Struwwelpeter“ zu sehen.