
Der Bassbariton Thomas Quasthoff, 63, zählte lange zu den bedeutendsten Opern-, Lied- und Konzertsängern überhaupt. Seine Weltkarriere begann 1988 mit dem Sieg des ARD-Wettbewerbs. Ein Jahr zuvor hatte er den Mozartpreis des Würzburger Mozartfests gewonnen. Er hat sich überdies als Jazzsänger, Schauspieler, Autor, Rezitator und Lehrer einen Namen gemacht. Beim Festival Lied in Würzburg wird er einen Meisterkurs geben und in einer Sprechrolle an einem Konzert teilnehmen. Quasthoff ist bekannt für deutliche Worte, mit seiner Contergan-Schädigung geht er offensiv um: "Ich bin ein Künstler mit einer Behinderung, nicht ein Behinderter, der zufällig Künstler ist", hat er einmal gesagt. Auch zum Musikbetrieb und zur Ausbildung in Deutschland hat er klare Meinungen, mit denen er nicht hinterm Berg hält.
Thomas Quasthoff: Ich finde es immer problematisch, wenn man eine Kunstform in Relation zu einer bestimmten Zeit setzt. Es hat auch Liederabende während des Zeiten Weltkriegs gegeben und zuvor in den 1920er Jahren, als wir eine riesige Inflation hatten. Sagen wir mal so: Es ist vielleicht die Kunstform, bei der man am meisten gezwungen ist zuzuhören. Es ist sicher die purste, reinste Form des Musizierens. Jeder benutzt die Stimme jeden Tag, und deshalb ist einem dieses sogenannte Instrument auch besonders nah. Ich behaupte jetzt etwas sehr Gefährliches: Es gibt kein Instrument auf dieser Erde, das den Menschen beim Zuhören derart ergreifen kann wie die menschliche Stimme.

Quasthoff: ... finden Sie, dass so viele Menschen schön singen können? Ich könnte Ihnen jetzt Namen von sehr bekannten Sängern nennen, die alles machen, aber bestimmt nicht schön singen. Es gibt durchaus Stimmen, die als "schön" gelten, die ich ziemlich unerträglich finde. Es gibt aber auch Sänger wie Gerald Finley, den ich für einen der besten, schönstklingenden Baritone halte, die es zur Zeit gibt.
Quasthoff: Ich will emotional mitgerissen werden. Und das kann auch mal ein "Erlkönig" sein, der im ästhetischen Sinne nicht unbedingt schön ist, der mich aber einfach mitnimmt. Das habe ich schon erlebt.
Quasthoff: In meinem Fall nicht (lacht). Ich war vom sogenannten Sex sehr weit entfernt. Umso stolzer war ich darauf, dass mich die Deutsche Grammophon von 1999 bis 2014 exklusiv als Künstler unter Vertrag hatte. Ich gebe Ihnen Recht, aber wir müssen leider auch sagen: Sex sells. Und wenn dann jemand wie im Falle von Jonas Kaufmann oder Anna Netrebko auch noch singen kann, ist es besonders schön. Ich glaube, dass das Problem eher in der Belastung liegt: Hören Sie sich mal diese sogenannten Stars an. Auch einer Anna Netrebko und einigen anderen merkt man die Menge an Konzerten stimmlich an. Da möchte ich sagen: Leute – zehn, 15 Konzerte weniger im Jahr, und eure Stimme würde heute noch frisch klingen.
Quasthoff: Wir diskutieren das derzeit sehr offen und intensiv an der Hochschule für Musik Hanns Eisler - es wird immer schwieriger, hochkarätigen Nachwuchs auszubilden, weil die Zeit durch das Bachelor/Master-System viel zu kurz ist. Die Musikwelt erwartet nach vier Jahren Studium einen fertigen Sänger. Früher war die Studienzeit fast doppelt so lange.
Quasthoff: Es gibt kein anderes Instrument, das im Körper ist. Die Entwicklung einer Stimme geht immer einher mit der Entwicklung von Psyche und Persönlichkeit. Und das braucht einfach Zeit – besonders die sogenannten großen Stimmen. Wenn ich meine eigene Ausbildung in Semestern zusammenfassen würde, da würden den Kultusministern heute die Haare zu Berge stehen. Ich habe den Gesangsunterricht angefangen mit 13, noch vor dem Stimmbruch, und hatte einmal die Woche Unterricht. Ich habe mich von meiner Lehrerin getrennt, da war ich 28. Aber: Ich stehe nächstes Jahr 50 Jahre auf der Bühne und singe immer noch. Bestimmt nicht mehr so wie mit 24, deshalb singe ich auch keine Klassik mehr, sondern meinen Jazz, und wir füllen immer noch große Hallen.
Quasthoff: Ja! (lacht) Es gibt nichts Schlimmeres als Einseitigkeit.
Quasthoff: Ich habe ein unglaublich gutes Rüstzeug mitbekommen. Gepaart allerdings auch mit einem großen Anteil an Begabung, das wird sehr oft unterschätzt. Meine ehemalige Lehrerin Charlotte Lehmann hat mal gesagt, ich kann aus fast jedem einen guten Sänger machen - das kann sie leider nicht. Denn es braucht immer einen Studenten, eine Studentin, der oder die das stimmliche Material mitbringt.
Quasthoff: Dieser krankhafte Eifer, Amerika alles nachzumachen... Es gibt durchaus Intendanten wie etwa Bernd Loebe in Frankfurt, die sich darauf verstehen, junge Stimmen aufzubauen und zu entwickeln. Aber an der Hochschule verplempern wir mittlerweile fast mehr Zeit mit Eigenverwaltung als mit Unterricht. Wenn mich heute ein Student fragt, wie das mit den ganzen Modulen funktioniert, muss ich ihm sagen, geh bitte zu dem und dem Kollegen, der kann dir das erklären. Für wissenschaftliche Fächer ist das super, aber nicht für ein künstlerisches Fach. Sie können einen angehenden Künstler nicht nach Modulen unterrichten, das ist völliger Blödsinn. Die Politik beschließt, und es beschließen Leute, die im wahrsten Sinne des Wortes von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Wenn ich all das vorher gewusst hätte, hätte ich gesagt: Wisst ihr was? Ich unterrichte privat.
Quasthoff: Ich frage immer am Anfang, ob ich auch zu technischen Sachen etwas sagen darf. Wenn ja, dann sage ich schon mal was zum Kinn, zur Zunge oder zum Atmen. Viele können heute nicht mal richtig atmen. Aber ich will niemand verunsichern, sondern helfen. Die sollen alle sehr fröhlich nach Hause gehen und nicht frustriert. Es gibt im Englischen dieses wunderbare Verb "to encourage". Darum geht es: Dass man die Sängerinnen und Sänger unterstützt im mutig Sein, ihre Emotionen zuzulassen. Das fällt nämlich jungen Leuten heutzutage immer schwerer.
Quasthoff: Dass wir davon wegkommen, im Frack am Flügel zu stehen. Ich glaube, dass diese Form, in die man das immer noch quetscht, viele junge Leute abschreckt. Wenn man uns alle von diesem episch hochstehenden Thron runterholen würde, würde uns das wahnsinnig guttun.