Bis zuletzt feilte Mathias Tretter mit seinem Regisseur Mathias Repiscus am Text: An diesem Freitag hat sein neues Solo-Programm "Sittenstrolch" im Würzburger Bockshorn Premiere. Und weil Tretter wie Repiscus pingelige und perfektionistische Kulturmenschen sind, probten und diskutierten sie tagelang. Dass der Kabarettist, der aus Würzburg stammt und 2007 nach Leipzig zog, seine neuen Programme im Drei-Jahres-Rhythmus immer zuerst in der "alten Heimat" vorstellt - es hat Tradition. Ansonsten ist der 48-jährige inzwischen durchaus in Sachsen heimisch. Oder nicht? Ein Gespräch über Ost-West - und darüber, dass das nicht mehr die Frage ist.
Herr Tretter, wo waren Sie denn am 3. Oktober 1990?
Tretter: Das weiß ich nicht mehr. Der 3. Oktober hat für mich damals keine Rolle gespielt. Dass der Tag der Einheit da initiiert wurde – das hat man wahrgenommen, mehr nicht. Ich weiß wo ich am 9. November war, 1989.
Nämlich?
Tretter: Da sind wir nach München gefahren. Ich war in der Kollegstufe am Friedrich-Koenig-Gymnasium, und wir haben an einem bayerischen Schachturnier teilgenommen. Und dann haben wir Radio gehört!
Und wann waren Sie zum ersten Mal „im Osten“?
Tretter: 1991, zu Beginn meines Zivildienstes. Der Bruder meiner damaligen Freundin hat eine Krankenkassen-Filiale in Mittweida, das ist ungefähr in der Mitte zwischen Dresden und Leipzig, aufgebaut. Und er hatte dort in einem alten Kaderwohnheim eine Wohnung, an einem See. Am Wochenende war er immer in Würzburg – und wir hatten diese Wohnung zur Verfügung. Und haben uns Dresden und Leipzig angeschaut.
Und dann sind Sie in Leipzig hängengeblieben?
Tretter: Geistig schon ein bisschen. Leipzig hat mir einfach unglaublich gut gefallen damals. Aber dort hin zu ziehen, das hat sich noch nicht ergeben.
Dass Sie dann doch 2007 in Leipzig gelandet sind, war Zufall?
Tretter: Letztlich war es Zufall, weil meine Frau aus Leipzig kam. Wir haben uns zwar in Würzburg kennengelernt. Aber irgendwann haben wir uns für Leipzig entschieden.
Und wie war es, gefühlt, 17 Jahre nach der Wiedervereinigung: Sind Sie „in den Osten“ gegangen?
Tretter: Für mich war das kein Gedanke. Aber die Leute hier waren sehr überrascht. Das hat Jahre gedauert, bis ich nicht mehr angesprochen wurde, wer mich dorthin „verschleppt“ hat. Das war im Westen andauernd ein Thema. Und immer wurde mir unterstellt, dass ich wegen einer Frau dahin gezogen sei. Das konnte ich nicht ausräumen, obwohl es gar nicht stimmte. Uns hat die Stadt gut gefallen! Aber es musste ein sinisterer Grund dahinter liegen. Das hat mich damals irgendwann auch genervt. Denn sehr oft kam das von Leuten, die noch nicht ein einziges Mal überhaupt im Osten gewesen waren. Die Ignoranz, die Übergriffigkeit – das hat mich schon überrascht.
Und in Leipzig waren Sie der Wessi?
Tretter: Nein. Weil Leipzig für Sachsen und für Ostdeutschland ist wie New York für die USA. In Leipzig spielt sich etwas völlig anderes ab als 30 Kilometer außerhalb. Zwischen Leipzig und Torgau auf dem Dorf, da konnte es schon zumindest unangenehm werden.
Was ist in Leipzig denn anders als hier?
Tretter: Da wird man mir in Würzburg vielleicht ein bisschen böse sein. Aber es gab ja eine ganze Zeit lang diesen Spruch: Provinz auf Weltniveau. Und Leipzig ist exakt das Umgekehrte: Es ist Welt auf Provinzniveau! Der Leipziger stand zum Beispiel völlig konsterniert vor dieser Olympia-Bewerbung. In Konkurrenz zu Paris zu treten, da sagt der Leipziger: Das isn Dorf hier, was wolln die denn? Grundsätzlich macht er die Stadt nicht schlecht. Aber: klein und kuschelig, das reicht ihm. Ich mag Würzburg gerne. Aber mich frappiert das immer wieder diese leichte Großmannssucht, die alles viel provinzieller macht. Also Beispiel noch: Neo Rauch . . .
. . . weltberühmten Leipziger Maler!
Tretter: Über den sagen die Leute in Leipzig: Der verarscht uns doch nur, dieses Zeug, das der da malt. Da ist kein Stolz. Das ist nicht „unser“ Neo Rauch, der große Sohn der Stadt – das finde ich wahnsinnig sympathisch.
Wenn Sie im Land unterwegs sind und auf den verschiedenen Bühnen – ist Ihnen immer bewusst, wo Sie gerade sind? Merken Sie noch, ob Sie in Ost oder West sind?
Tretter: Na, ehrlich gesagt merke ich es durch so ein Interview. Ansonsten werde ich kaum mehr gefragt. Die Leute wissen ja eh, dass ich ursprünglich nicht aus Ostdeutschland komme. Dafür ist in meinen Programmen auch viel zu viel drin, was mit Franken zu tun hat.
Und das Kabarettpublikum? Wo goutiert man eher einen Abend lang auch Ernsthaftigkeit?
Tretter: Also, das ist eine Altersfrage! Die fünf Kabaretts, die es in der Leipziger Innenstadt mit ihren Ensembles gibt, das sind im weitesten Sinne traditionelle Kabarett-Theater. Die noch das spielen, was man 1980 auch gesehen hätte. Also ganz, ganz klassisch, manchmal auch betulich: Nummer, Musik, Nummer, Musik . . . Weniges, was Grenzen überschreitet. Das Publikum dieser Spielstätten ist durchschnittlich Ende Sechzig. Und die, die da auf der Bühne stehen, sind Fünfzig plus.
Und die Jungen . . .?
Tretter: Bei denen habe ich ja das Gefühl, dass in den letzten fünf Jahren das politische Kabarett wieder in diese Belehrungsrichtung tendiert.
Keine Comedy mehr?
Tretter: Ich nehme eine Strömung wahr, die mich sehr befremdet: Unterhaltung wird fast fallengelassen zugunsten einer wie auch immer gearteten Botschaft, die man in der Zeitung genauso lesen kann. Für mich ist das oft runtergekochtes Leitartikeltum. Das ist bei den Jungen angesagt.
Aber Botschaften hatte das Kabarett doch früher auch . . .
Tretter: Nicht diesen Sekundärjournalismus. Es wird Presse genommen, daraus wird eine Botschaft destilliert, die Unterhaltung bleibt auf der Strecke. Kabarett zu machen ist etwas anderes. Dieter Hildebrandt oder Volker Pispers waren nicht ohne Botschaft. Aber sie haben immer darauf geachtet, dass sie unterhalten! Da waren immer Pointen drin. Das war Kunst! Heute haben wir in der Gesellschaft Neoliberalismus, eine neue Identitätspolitik, die von der linken Seite betrieben wird.
Neoliberalismus von Links?
Tretter: Und das mit einer Radikalität, vor allem im Vokabular. Grausig, in jeder Hinsicht: stilistisch, inhaltlich, in seiner Vulgarität. Und alles ist eine „Mikro-Aggression“! Und auf den, der angeblich so eine Aggression verbreitet, wird mit einer Widerlichkeit eingedroschen. Humor ist komplett über Bord geworfen. Und dann diese Moral, das absichtliche Missverstehen! Unter uns, ich habe das Gefühl, es läuft auf einen großen Knall zu.
Das ist dann aber keine Ost-West-Frage mehr, oder?
Tretter: Absolut nicht. Es war, außer vielleicht kurz nach der Wende, sowieso immer schon eine Nord-Süd-Frage. Ein Schleswig-Holsteiner hat mit einem Bayern unendlich viel weniger zu tun als ein Sachse mit einem Franken. Es ist übrigens aus ostdeutscher Sicht kurios, wenn jetzt immer von den „historischen Zeiten, in denen wir leben“ die Rede ist. Wegen Corona. Und vom „tiefsten Einschnitt seit dem Zweiten Weltkrieg“. Leute müssen eine Maske tragen, Abstand halten und sich ab und zu die Hände waschen. Das ist der tiefste Einschnitt? Wenn 1989 ein ganz System zerbröselt ist und die Biografien der Leute komplett geändert hat. Daran sieht man schon, wie die Perspektive ist. Aber die Leute wollen so was zum Teil auch. Man braucht wieder so was.
Wollen? Brauchen?
Tretter: 80 Jahre sind lang seit dem letzten Krieg! Man feiert sich für das Leid, für die Pandemie. Was nicht zur Überwindung der Krise beiträgt.
Heißt es in Ostdeutschland: Wir haben schon ganz anderes erlebt?
Tretter: Das zum Einen. Und zum anderen ist doch eine größere Sensibilität, was staatliches Eingreifen betrifft, das Aussetzen der Grundrechte. Da reagieren die Leute im Osten viel sensibler darauf. Im Westen wird dann sofort kategorisiert und in die rechte Ecke geschoben: die ewig Gestrigen, Reichsbürger, was weiß ich. Die sind natürlich dabei. Aber wenn in der Kneipe in Leipzig darüber geredet wird, dann sagen die Leute: Wie einfach es ging, die Grundrechte wegzufegen, ohne Diskussion - das belastet sie. Was den Staat betrifft und sein Eingreifen, da gibt es im Osten eine höhere Sensibilität.
Hören Sie eigentlich immer noch Ossi-Klischees?
Tretter: Die Frage erinnert mich ein bisschen an die Ranglisten im Internet: Was Transsexuelle nicht mehr hören können . . . Ich beschäftige mich mit so was überhaupt nicht.
Als Sie nach Leipzig gezogen sind – haben Sie gemerkt, dass Sie aus Westdeutschland kommen?
Tretter: Ja, aber sehr kurz, dann war ich ossimiliert. Interessanterweise werde ich immer fränkischer, seitdem ich dort lebe. In der Diaspora kehrt man zu den Wurzeln zurück. Was ich hier in der Gesellschaft nicht mag: diese größere Aufregung um so vieles. Dieses Draufhauen, Moralisieren. Im Osten erlebe ich öfter Witze, diese kumpelige Miteinander, bei dem man sich auf die Schippe nimmt. Das ist ein bisschen anders. Es ist eine größere Resilienz da. Man nimmt Sachen öfter mit Humor.
Ihr neues Programm heißt „Sittenstrolch“ . . . es geht um?
Tretter: Moral! Wie die Moral mittlerweile alles bestimmt. Es ist ein Rückschritt in düstere Zeiten. Es ging jetzt jahrzehntelang um Gesetzestreue. Die Moral war Privatsache, ein Hobby für Senioren mit einer Magenkrankheit. Jetzt dreht es sich in eine Richtung, die im Endeffekt dazu führen wird, dass sich die Leute die Köpfe einschlagen.
Der Grund?
Tretter: Die Logik der sozialen Medien. Das Internet hat das unglaublich befördert. Früher gab es eine sehr sinnvolle, große Hürde zur Öffentlichkeit. Heute hat jeder 24 Stunden Zugang zur Weltöffentlichkeit. Heute schwingen sich Leute auf – ohne Kontrolle - und nehmen sich selbst als Gesetz.
Haben Sie noch Hoffnung?
Tretter: Wenig. Ich persönlich finde es sehr bedenklich. Nicht wegen Corona. Die Renaissance ist letztlich auch aus einer Seuche entstanden, aus der Pest. Aber die gesamtgesellschaftliche Entwicklung geht in eine Richtung und hat eine Dynamik angenommen, bei der mir mitunter angst und bange wird. Die Probleme könnten so groß werden, dass Ost-West wirklich nicht mehr das Thema wird.
Zur Feier des Tages ein Schlusswort: Was ist typisch Ost und Sie mögen es gern?
Tretter: Was ist typisch? Was ich an Leipzig sehr mag, ist die Grundentspanntheit! Es ist immer noch eine sehr lässige Stadt. Den Dialekt mag ich inzwischen übrigens auch. Und die gewisse Rotzigkeit, wie in Franken. In Leipzig ist es eher so eine gemütliche, freundliche. In Franken kommt sie halt etwas härter rüber, auch wenn sie nicht unfreundlich gemeint ist. So ein bisschen dieses „Basstscho“.
Was in Leipzig so viel bedeuten würde wie?
Tretter: Oh, das ist unübersetzbar! Auf Würzburgerisch: einwandfrei.