Auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich Bücher über Richard Wagner. Das Libretto zur „Götterdämmerung“ ist dabei, die Biografie von Martin Geck. Der Fernsehschirm zeigt das Startbild einer DVD des „Fliegenden Holländer“ in der Bayreuther Harry-Kupfer-Inszenierung von 1978. Kein Zweifel: Hermann Lang ist Wagnerianer. Und das, seit er als junger Mensch im Rundfunk eine „Holländer“-Übertragung hörte.
Hermann Lang ist aber auch Psychiater und Psychoanalytiker. Da lag es nahe, dass der emeritierte Vorstand des Instituts für Psychotherapie und Medizinische Psychologie der Universität Würzbug sich dem 1883 gestorbenen Dichterkomponisten auch mit professionellem Interesse näherte. „Das ist durchaus möglich“, sagt der Professor. „Wir haben viele Aussagen von Wagner zu sich selbst. Unter anderem in ,Mein Leben‘.“ Der 1813 geborene Komponist geht in seiner Autobiografie, mit der er 1865 anfing, bis in seine früheste Kindheit zurück – ein Ansatzpunkt für den Psychoanalytiker.
Chaotische Kindheit
Wagner, sagt der 79-jährige Dr. phil und Dr. med., habe eine „schreckliche“ Kindheit gehabt. „Er war das neunte Kind einer völlig überlasteten Frau; der Vater war kurz nach Richards Geburt gestorben. Die Mutter zog mit einem Mann zusammen, der gerade Richard häufig verdroschen hat.“ Der kleine Richard sei zudem immer wieder weggegeben worden, „er hatte ständig andere Bezugspersonen“. Wagner, so Professor Lang, habe sich „bitterlich beklagt, dass er nie so etwas wie Mutterliebe erfahren hat“. Im Rückblick urteilte der Komponist: „Ein Chaos war meine Kindheit.“
Für das Defizit in der Wirklichkeit zimmerte sich der Dichterkomponist Ersatz in der Fantasie: „In Richard Wagners Werk wird die Liebe gefeiert wie bei keinem anderen Opernkomponisten“, analysiert Psychotherapeut Lang. Dabei gehe es um jede Art von Liebe, auch die geschlechtliche.
Hermann Lang findet bei Geliebten-Figuren in Wagner'schen Musikdramen „mütterliche Züge“. Brünnhilde wird in der Szene, in der Siegfried – sie nennt ihn „Kind“ – sie aus dem Feuerring befreit, nahezu als eine Art Über-Mutter gezeichnet. Sie habe ihn gekannt, „noch ehe du geboren“, behauptet die Walküre. Wenig später wird Siegfried der Geliebte von Brünnhilde.
Oder Kundry: Um Parsifal zu verführen, erzähle sie von seiner Mutter und „hofft, dass Parsifal die Liebe, die er für die Mutter empfindet, jetzt auf sie überträgt“, interpretiert Lang.
„Ich denke schon, dass Wagners schlimme Kindheit eine lebenslange Sehnsucht nach einer Geliebten ausgelöst hat, die nur für ihn da ist“, sagt Hermann Lang. Auch im wirklichen Leben habe Richard Wagner eine „Symbiose“ aus Geliebter und Mutter gesucht. Die habe er in seiner zweiten Frau Cosima auch gefunden.
Pierre-Carl Link, Initiator einer Vortragsreihe des Würzburger Collegium Psychoanalyticum, bei der's im Sommersemester um Psychoanalyse in Kunst und Kultur geht (siehe Kasten), greift den Erlösungsgedanken auf, der in vielen Wagner-Werken präsent ist: „Mit dem Trauma der Geburt beginnt das Trauma der Auseinandersetzung mit der Welt“, sagt der Psychotherapeut, Philosoph, und Pädagoge. Es könne ja sein, so der Würzburger Wissenschaftler, dass der Erlösungsgedanke ein „Streben zurück in das Paradies, nämlich den Mutterleib, bedeutet“.
Denn auch die Erlösung funktioniert in Richard Wagners Schaffen über die Liebe: Der endlos über die Meere getriebene „Fliegende Holländer“ etwa kann nur durch die Hingabe Sentas erlöst werden.
Die „Nebenfrauen“
Wagner fantasiert sich eine überirdische Liebe zurecht, zu der die beiden erst im Tod finden. Der Musikdramatiker habe eine extreme Vorstellung von Liebe gehabt, ergänzt Lang. Im Leben lasse sie sich in dieser Form nicht finden. Lang: „Die richtige Vereinigung findet eigentlich erst im Tode oder nach dem Tode statt.“
Alleine erlöst zu werden, ist im Wagner-Kosmos nicht möglich. Auch da spiegelt sich die Psyche des Künstlers: „Er war einer dieser Persönlichkeitstypen, die nicht allein sein können“, so Hermann Lang. Richard Wagner habe deswegen auch immer „Nebenfrauen“ gehabt. Lang: „Ich habe 18 gezählt!“ Wagner habe diese Beziehungen – nicht jede davon war eine sexuelle – für seine Kreativität gebraucht.
Dass einer nicht allein sein kann, sei zwar nicht ungewöhnlich, sagt der Psychiater. Aber jedenfalls ein markanter Wesenszug Wagners: „Beethoven konnte sicherlich alleine gut arbeiten.“
Den beiden Würzburger Wissenschaftlern geht es nicht darum, in der Psyche Richard Wagners krankhafte Züge zu finden. Die im volkstümlichen Weltbild verankerte Verbindung von „Genie und Wahnsinn“ hält Professor Lang ohnehin rundheraus für „Quatsch“. Es gehe vielmehr um das, was die Psychoanalyse über Kunst, die menschliche Seele und deren wechselseitige Beziehung zu sagen habe.
„Was wir nicht leisten können: Zu ergründen, was ein Genie ist“, sagt Hermann Lang. Schließlich hat nicht jeder, dem Mutter- oder Vaterliebe fehlte, einen „Ring des Nibelungen“ drauf . . .