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WÜRZBURG
Warum wir alle dauernd philosophieren
Soziopod live: Patrick Breitenbach diskutiert mit seinem Sparringspartner Nils Köbel im Internet und auf der Bühne über grundlegende Fragen des Menschseins. Demnächst auch in Würzburg.
Wer sind wir, wo kommen wir her, und wo gehen wir hin? Erstaunlich, in wie vielen alltäglichen Zusammenhängen philosophische Fragen auftauchen. Patrick Breitenbach und Nils Köbel (von links) laden ein, mit ihnen darüber zu diskutieren.
Foto: Jakob Ledig | Wer sind wir, wo kommen wir her, und wo gehen wir hin? Erstaunlich, in wie vielen alltäglichen Zusammenhängen philosophische Fragen auftauchen.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 27.04.2023 02:19 Uhr

Auf seiner Internetseite firmiert Patrick Breitenbach als „digitaler Botschafter“. Geboren 1976 bei Lüdenscheid, verschlug es ihn mit zehn „in ein unterfränkisches Dorf, dessen Sprache ich absolut nicht verstand“. Heute lebt er in Rottenbauer, ist aber viel unterwegs: als Entwickler von Social-Media-Formaten für ZDF Digital und als Philosoph. Mit seinem Sparringspartner, dem Soziologen Nils Köbel („Dr. Köbel“), führt er ebenso unterhaltsame wie lehrreiche öffentliche Gespräche über Themen wie Migration, Patriotismus, Menschenrechte, Europa, Familie, kurz: Das Sein an sich und alle seine Begleiterscheingen. Diese philosophischen Exkurse (die sich auch schon mal mit Raumschiff Enterprise befassen) sind als Podcasts verfügbar unter www.soziopod.de.

Dafür gab es 2013 den Grimme Online Award. Anfang des Jahres erschien das Dialogbuch „Wie ich wurde ,was ich bin, und was wir einmal sein werden“. Hinzu kommt ein Bühnenprogramm, das am Sonntag, 16. Oktober, 20 Uhr, im Würzburger Theater am Neunerplatz zu sehen sein wird. Was man sich darunter vorzustellen hat und warum jeder Mensch philosophiert, das erklärt Patrick Breitenbach vorab im Interview.

Frage: In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen vernünftigem und unvernünftigem Wir. Wenn man die jüngsten Wahlergebnisse betrachtet, könnte man meinen, dieses Land wende sich gerade zum unvernünftigen Wir.

Patrick Breitenbach: Schwierig. Es ist einerseits die Frage, ob ein Land jemals durchweg vernünftig war oder ob das Unvernünftige, wenn man es so nennen will, durch eine Wahl erst sichtbar wird. Ich glaube, dass immer sehr viel Unvernünftiges verdeckt in einer Gesellschaft schlummert und gerade durch solche Ereignisse in der Gesellschaft präsenter wird. Außerdem sehen sich die Anhänger von rechtspopulistischen Parteien natürlich selbst als extrem vernünftig. Mit dem Vernunftbegriff kann man also alles Mögliche anstellen.

Es wird nur in den Exzessen sichtbar, wenn ein Thema kippt, etwa das Thema Gewalt.

Breitenbach: Genau – da wird aber auch die Wahrnehmung von den Medien extrem verzerrt. Medien leben von Extremen und Katastrophen. Und je häufiger solche Meldungen erscheinen, desto mehr hat man den Eindruck, die Welt wird immer unvernünftiger. Das Positive geht unter, weil es keinen Bericht wert ist. Das gilt besonders für die neuen klickorientierten Medien, die diese Tendenz zusätzlich befeuern.

Und eben durch diese neuen Medien hat die Unvernunft neue Sprachrohre, neue Identifikationsfiguren. Mit der Unterscheidung von Vernunft und Unvernunft sind wir längst in der Philosophie angelangt. Sind der Soziopod und das Buch ein Therapieangebot an uns, vernünftiger zu werden?

Breitenbach: Es fragt sich, ob die reine Vernunft, wie sie von Kant formuliert wurde, und wie sie seither so hochgehalten wird, das Maß aller Dinge ist. Eben weil der Mensch immer auch ein unvernünftiges Wesen ist. Wir haben immer zwei Seiten in uns: die helle, die dunkle, die vernünftige und die unvernünftige, die rationale und die emotionale. Es wäre fatal, eine dieser Seiten rigoros ausmerzen zu wollen.

Die Emotion ist ein ganz wichtiger Teil des menschlichen Zusammenlebens. Wir versuchen mit dem Buch ein Instrument zu finden, mit dem man das scheinbar Selbstverständliche hinterfragen kann. Zu schauen: Was steckt dahinter?

Also der erste aller philosophischen Ansätze: Was umgibt mich, wie kann ich darüber eine Aussage machen, und was ist diese Aussage wert?

Breitenbach: Erst mal Neugier wecken für das, wozu man im Alltag meist keine Fragen hat. Man sieht das an den Talkshows: Die werden nach aktuellen Anlässen angesetzt, aber dann bleibt alles nur an der Oberfläche und es wird nicht tiefer nachgefragt. Themen wie Terrorismus etwa – wie ticken solche Menschen, wie werden sie zu Extremisten? Das sind ja nicht einfach böse Menschen, sondern da steckt eine Biografie dahinter. Und es steckt ein System dahinter, in das all das eingebettet ist.

Wie ist dann also Ihr Ansatz?

Breitenbach: Wir wollen Menschen dazu anregen Dinge kritisch zu hinterfragen, gerne auch uns selbst. Und dabei bedienen wir uns des Storytellings, also des Erzählens in Metaphern, das wiederum an Emotionen andockt. Diese Kombination ist extrem wichtig. Wenn wir jetzt nur die rein wissenschaftlich, rationale Sprache mit einem hohen Grad an Abstraktion verwenden würden, würden wir nicht so viele Menschen erreichen und begeistern. Es geht immer darum, Vernunft und Emotion sinnvoll zusammenzubringen.

Umgekehrt gefragt: Wäre das eine Erklärung für den Rechtsruck, für die Gewalt und den Hass – dass Menschen mit ihren Emotionen alleingelassen wurden? Oder dass man von diesen Menschen zu lange verlangt hat, vernünftig zu sein und sie das jetzt schlicht satthaben?

Breitenbach: Der AfD-Philosoph, Marc Jongen, ein Schüler und ehemaliger Mitarbeiter Peter Sloterdijks, betonte in älteren Interviews, dass Wut und Zorn im Menschen nicht nur politisch genutzt werden kann, sondern sogar noch verstärkt werden muss, um eine politische Umwälzung zu erzielen. Es hat sich bei den Bürgern aus unterschiedlichen Gründen viel Angst und Frust aufgestaut, die sich irgendwann auch in Wut verwandelt.

Rechtspopulisten setzen bewusst auf die sich widerholende Verstärkung von Angst und Wut. Da baut sich dann ein Druck auf, der dringend ein Ventil sucht. Dieses Ventil will natürlich die jeweilige Partei sein. Sie verspricht Entlastung, allein durch ihr Dasein. Ein weiteres Instrument der Entlastung ist die Einführung eines Sündenbocks. Merkel, die Flüchtlinge, die Gutmenschen und so weiter. Wenn die mal alle weg sind, so die Theorie der Populisten, dann würde alles sofort besser werden. Der große Vorteil, den die Rechtspopulisten im Moment haben: Sie müssen selbst noch nicht liefern. Momentan sind sie ja nur gegen eine bestehende Politik und gegen das Establishment. Ein echtes konstruktives politisches und grundgesetzkonformes Konzept ist nicht erkennbar. Brauchen sie auch nicht. Dagegen zu sein reicht derzeit vollkommen aus, nicht zuletzt weil in Deutschland eine echte und starke Opposition seit Jahren nicht mehr spürbar ist. Zudem haben alle Parteien stets mit großen Emotionen gearbeitet, große Versprechungen formuliert und ebenfalls einfache Lösungen propagiert, die aber einfach nicht eingetreten sind oder nie eintreten konnten. Neue Medien decken diese haltlosen Versprechungen natürlich noch stärker auf. Und diese ständigen Doppelbotschaften macht Menschen zunehmend nervöser, unsicherer und eben auch wütender. Die Sehnsucht nach Entlastung steigt.

Klingt nach einer ungerechten Verteilung der Voraussetzungen.

Breitenbach: Politik erzeugt immer Enttäuschung. Weil jeder andere Erwartungen an Politik und Politiker hat. Und daraus resultiert dann Frust. Aber wenn ich es im Bildungsprozess verpasst habe, den Menschen zu erklären, was Demokratie bedeutet, nämlich auch Anstrengung und Enttäuschung, dann kommt es zu dem Effekt, dass Leute mit Demokratie nicht mehr klarkommen. Vor allem, wenn die Welt immer komplexer erscheint. Die Medien eröffnen den Menschen eine Welt, die sie vorher in ihrer Vielschichtigkeit gar nicht wahrgenommen haben – das erzeugt wieder immense Konflikte, Ängste und Reibungspunkt. Und dann sehnen sich die Menschen nach einfachen Lösungen, und die bieten die Demagogen dann ja auch erfolgreich an.

Ihr Bühnenprogramm trägt den Titel „Bildung und soziale Ungleichheit“. Bildung klingt alt, klingt anstrengend. Sie trauen sich, den Begriff zu verwenden, Sie geben sogar zu, dass Sie philosophieren. Wer will denn überhaupt noch was von Philosophie hören?

Breitenbach: Im Endeffekt interessieren sich alle Menschen für Philosophie. Weil Philosophie nichts anderes ist als die Fragen, wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? In der Vergangenheit haben sehr oft Religionen die Antworten gegeben.

Mit der Aufklärung kam dann eine neue Strömung dazu, die eben andere Antworten geben wollte. Aber ich glaube, diese Fragen sind bei jedem Menschen vorhanden, manchmal werden sie halt ausgeblendet. Und da docken wir an, gerade auch, wenn Menschen in Religion nichts mehr finden. Da wird Philosophie dann spannend.

Es gibt den Podcast Soziopod, wo Sie sich mit ihrem Partner, dem Soziologen Nils Köbel unterhalten, es gibt das Buch, das auch dialogisch aufgebaut ist. Wie hat man sich einen Bühnenauftritt vorzustellen?

Breitenbach: Ähnlich – die Dialogsituation zieht sich konstant durch. Im ersten Teil werden wir einen etwa halbstündigen Einführungsdialog machen. Das Neue in den Shows ist der Austausch mit dem Publikum, das vermissen wir in den Podcasts. Das heißt, wir öffnen die Bühne zu einem sogenannten Fishbowl, das ist ein Moderationsformat. Wir haben drei Plätze auf der Bühne für Menschen aus dem Publikum reserviert. Man kann sich also zu uns setzen und mit uns diskutieren. Gerne auch kritisch. Dabei begeben wir uns immer auf die Ebene des Gesprächspartners und dadurch wird das Ganze wesentlich lebendiger als ein statischer Vortrag.

Der Titel klingt nach einer Art These, die Sie dem Ganzen voranstellen.

Breitenbach: Wir werden wohl wie immer mit einer Definition beginnen: Was ist Bildung? Und was ist soziale Ungleichheit? Bei Bildung ist es wichtig zu sagen, dass es eben nicht um den sogenannten Nürnberger Wissenstrichter geht. Wir werden den Bildungsbegriff des Schweizer Philosophen Peter Bieri aufgreifen, der sagt, dass gerade Bildung immun machen kann gegen die Demagogen. Und dass es auch gebildete Unmenschen gab, zum Beispiel im „dritten Reich“ – die sich für gebildet hielten, es aber im Sinne von Bieri nicht waren, weil Bildung mehr ist als reines Wissen und das Reproduzieren von Wissen.

Weil es immer auch eine humanistische Komponente geben muss.

Breitenbach: Ja, und eine Komponente der Persönlichkeitsentfaltung, ohne wiederum andere in ihrer Entfaltung zu beeinträchtigen. Beim Thema soziale Ungleichheit werden wir über den Ansatz von Pierre Bourdieu sprechen, einem französischen Soziologen, der aufgedröselt hat, wie wichtig es ist, in welches Umfeld man hineingeboren wird und welchen Habitus man dadurch hat. Und dass es mehr Kapitalsorten gibt als nur Geld. Nämlich soziales Kapital – Zugang zu Menschen, zu Netzwerken.

Kulturelles Kapital, also so etwas wie Wissen, Bildung und Reputation. Bourdieu hat empirisch veranschaulicht, wie sehr Ungleichheit vorhanden ist, und wie schwer es vor allem ist, da wieder rauszukommen. Bildung wiederum ist ein wichtiges Werkzeug um den Habitus zu verändern und soziale Ungleichheit entgegen zu wirken. Dazu bedarf es jedoch Zugang zu Bildung. Und dann ist natürlich die Frage, leben wir in einer Welt, wo man ohne Zugang zu ökonomischen Kapital gleichermaßen Zugang zu Bildung bekommt und damit Zugang zu anderen Ressourcen?

Wir schmeicheln uns ja damit, in einem System zu leben, in dem Bildung allen gleichermaßen zugänglich ist.

Breitenbach: Das ist der Punkt des Habitus: In welchem Milieu wachse ich auf? Es gibt zwar die institutionalisierte Bildung in Form eines Schulsystems, aber diese Institution lässt einen auch schnell fallen, wenn ich als Kind aus der bildungsbürgerlichen Reihe tanze, weil ich einen anderen Habitus habe. Weil bei mir zu Hause eben nicht gelesen wird, niemand mit mir ins Museum geht, sondern vielleicht nur die Glotze läuft und man sich gegenseitig anbrüllt. Und wenn ich dieses erlernte System mit in die Schule bringe, beginnen umgehend die nächsten Probleme.

Das ist eine Komponente, die viel zu oft übersehen wird. Es geht nicht nur darum zu sagen, sobald ich in die Schule gehe bin ich gebildet oder nur wenn ich genug Geld habe, bekomme ich automatisch genug Bildung. Da gehört schon etwas mehr dazu.

Soziopod live: Bildung und soziale Ungleichheit. Theater am Neunerplatz, Würzburg So., 16. Oktober, 20 Uhr. Kostenlose Registrierung für die Plätze unter soziopod.de

Patrick Breitenbach, Nils Köbel: „Wie ich wurde ,was ich bin, und was wir einmal sein werden“, Lübbe, 256 Seiten, 15 Euro.

 
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