Bei Urs Widmer geht es immer darum, wie Menschen sich verstehen – oder nicht verstehen. Seine Bücher handeln ebenso oft von Einsamkeit wie von Glück. Sie lassen sich auf doppelte Weise lesen: Man kann den anrührenden, oft auch komischen Geschichten folgen, man kann aber auch auf die Zwischen- und Untertöne hören, auf Melancholie und Trauer. Der ironisch verspielte Titel seiner Frankfurter Poetikvorlesungen von 2007 („Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das“) kann als Motto über seinem literarischen Leben stehen. Am 21. Mai wird der Schriftsteller 75 Jahre alt.
Urs Widmer, 1938 in Basel geboren, hat in der Schweiz und in Frankreich studiert und lebt heute in Zürich. Er ist ein herausragender Vertreter der Schweizer Literatur. Ihm selbst genügt das allerdings nicht. „Nein“, antwortet er auf die Frage, ob er ein Schweizer Autor sei, „wir gehören zur deutschen Literatur.“ Und er beruft sich dabei auf Gottfried Keller, seinen großen Kollegen im 19. Jahrhundert.
Vieles spricht für Widmers Sicht: Er hat in Basel über deutsche Nachkriegsliteratur promoviert, lebte von 1967 bis 1984 in Frankfurt am Main, zuerst als Lektor des Suhrkamp Verlags, dann als freier Autor. Seine Bücher erscheinen in einem Schweizer und einem deutschen Verlag. Bei Diogenes sind gerade seine „Gesammelten Erzählungen“ herausgekommen, geschrieben zwischen 1968 und 2010. Seine Bücher sind überall verständlich, weil sie an menschliche Grunderlebnisse rühren. Das gilt besonders für seine autobiografischen Werke, die Realität und Fiktion auf poetische Weise mischen. Das begann 1992 mit der Erzählung „Der blaue Siphon“, in der der Ich-Erzähler in Träumen und Erinnerungen Kindheit und Erwachsenenleben ineinanderspiegelt. Ihren Höhepunkt erreichte die Familienchronik in den Romanen über seine Mutter und seinen Vater, „Der Geliebte der Mutter“ (2000) und „Das Buch des Vaters“ (2004). Die Romane über die Mutter und den Vater sind vom wirklichen Leben inspiriert, verfremden es aber, und auch der Ich-Erzähler ist halb real, halb fiktiv.
Der größte internationale Erfolg Widmers war wohl das Theaterstück „Top Dogs“, Szenen mit entlassenen Managern großer Konzerne. Es sind keine Underdogs, die hier ihre Arbeit verlieren, sondern „Top Dogs“. In Trainingscamps sollen sie lernen, wie sie eine neue Stellung bekommen. Die oft böse funkelnde Satire ist seit der Uraufführung 1996 immer aktueller geworden. Auch die beiden neuen Stücke, „Das Ende vom Geld“ und „Münchhausens Enkel“, beide 2012 uraufgeführt, sind aktuell, reagieren auf die Finanzkrise.
In „Das Ende vom Geld“ treffen sich hochrangige Vertreter aus der Wirtschaft, der Politik und der katholischen Kirche in einem Schweizer Luxushotel. Aber statt über die Weltwirtschaft zu diskutieren, werden sie mit einem realen Problem konfrontiert: Sie werden eingeschneit, können das Hotel nicht mehr verlassen. In „Münchhausens Enkel“ ist der Nachfahre des Lügenbarons ein Finanzjongleur, ein Betrüger. Und anders als sein Vorfahre kann er sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.
Urs Widmer: Gesammelte Erzählungen (Diogenes, 768 Seiten, 29,90 Euro)