Der Würzburger Musikwissenschaftler Professor Ulrich Konrad über die beiden Jahrhundertgenies Richard Wagner und Giuseppe Verdi, die vor 200 Jahren geboren wurden. Ein Gespräch über Revolution, Antisemitismus und deutsche Befindlichkeiten.
Ulrich Konrad: Nein!
Konrad: Trotz „Tristan“. Für die deutsche Musik und partiell auch für die französische war Wagner einflussreicher als Verdi. Aber für die Oper insgesamt sehe ich keinen Unterschied. Ja, der Tristan-Akkord hat sehr vieles bewirkt – in der Musik insgesamt übrigens mehr als in der Oper.
Konrad: Wagner und Verdi haben völlig unterschiedliche Ausgangspositionen. Italien ist seit dem 18. Jahrhundert das Land der Oper schlechthin. Verdi findet eine Tradition vor, an die er anknüpfen kann. Die deutsche Oper dagegen etabliert sich sehr mühsam über das deutsche Singspiel, das keine internationale Geltung hat. In den frühen 1830er Jahren gab es nur vier deutsche Opern, die es halbwegs ins Repertoire geschafft haben: Mozarts „Entführung aus dem Serail“ und „Zauberflöte“, Beethovens „Fidelio“ und Webers „Freischütz“. Wagner will der deutschen Oper endlich eine Stimme in der Welt geben. Er versucht, aus allen möglichen Traditionen eine neue deutsche Oper zu schaffen. Deswegen sind seine frühen Werke – „Die Feen“ und das „Liebesverbot“ – so eminent wichtig. Es ist sträflich, dass sie kaum beachtet werden, und zeugt von der nach wie vor eingeschränkten Sicht auf Wagner.
Konrad: Verdi setzt lange Zeit auf die Melodie. Erstens die Melodie, zweitens die Melodie, drittens die Melodie.
Konrad: Verdi begreift den Text als Träger eines Grundaffektes. Das ist eine Anschauung, die in der italienischen Oper lange vorherrschte. Der Text transportiert bei ihm ein gewisses Grundgefühl: etwa Liebe, Trauer, Hass. Dafür muss man eine schlagkräftige melodische Formel finden. Verdi ist da außerordentlich treffsicher. Wagner geht es von Anfang an nicht allein um Gesang und Melodie, sondern um ein vielschichtiges Drama. Das hat eine vordergründige Handlung, aber immer auch einen Hintergrund. Dieser Hintergrund ist bei Richard Wagner der Mythos, für dessen Erklärung er das Orchester verwendet. Das ist bei ihm ein wissendes Organ, etwa wie der Chor in der antiken Tragödie. Solch eine Mehrdimensionalität war nicht in Verdis Sinn. Man könnte sagen: Seine Musik ist in gewisser Weise ehrlicher, weil sie unverstellt sagt, was sie will, während Wagners Musik immer mit einem Hörer rechnet, der alle möglichen Hintergründe mithört und versteht. Ohne dieses Mithören entsteht leicht der Eindruck eines breiten, unverständlichen, manchmal auch langweiligen Stroms, der sich über die Bühne wälzt.
Konrad: Es gibt einfach auch mehr Werke, die Theater haben eine größere Auswahl. Ob Verdi-Opern wirklich einfacher sind – ich weiß es nicht. Herausragende Verdi-Stimmen gibt es nicht so häufig, ebenso wie es nicht so viele herausragende Wagner-Stimmen gibt. Verdi-Stücke haben, ähnlich wie die von Wagner, etwas Zeitloses, bieten jeder Zeit die Möglichkeit, etwas Aktuelles herauszuholen. Das ist ja das Zeichen aller großen Kunst. Die Inszenierungsgeschichte der Verdi- und auch der Wagner-Opern in den letzten 50 Jahren ist atemberaubend. Ein berühmtes Beispiel ist der sogenannte Jahrhundert-„Ring“ bei den Bayreuther Wagner-Festspielen 1976. Regisseur Patrice Chéreau hat damit eine ganz neue Verständnisdimension für ein breites Publikum eröffnet. Und: Trotz allen Missbrauchs im Nationalsozialismus ist es nach dem Krieg gelungen, Wagner-Werke neu zu sehen, was mit den Namen Wieland und Wolfgang Wagner verbunden ist. Ohne das Potenzial, das in den Stücken drin steckt, wäre das nicht denkbar.
Konrad: Bei ihm gibt es keine mythische Hinterbühne wie bei Wagner. Bei Verdi geht es vor allem um menschliche Konflikte, die auf eine durchdringende Weise zeitlos sind. Wenn Sie etwa an „Otello“ denken – da finden Sie Rassenproblematik, das Verhältnis der Geschlechter, Eifersucht – es sind die elementaren Gefühle, die Verdi gestaltet.
Konrad: Wagner hat von Anfang an polarisiert. Das hängt sicher auch daran, dass er sehr engagiert – auch in seinen Werken und anders als Verdi – eine Weltanschauung propagierte. Wagner hat in Dresden eine der musikalischen Schlüsselstellungen verloren, weil er offen gegen das System aufgestanden ist. Man nahm ihm übel, dass er aktiv an der Revolution teilgenommen hat – ob er Bomben gebastelt oder transportiert hat, wird sich nie wirklich klären lassen – und dass er mit den führenden Revolutionären engen Umgang pflog. Dass er später in München Revolutionsfreunde aus Dresden von König Ludwig hat berufen lassen, war ein Skandal. Bei Verdi fehlt das alles. Er ist zwar für seine persönlichen Verhältnisse angegriffen worden, er lebte mit einer Sängerin zusammen, hatte später noch eine Freundin und pflegte eine Ménage a trois. Doch ansonsten war sein Leben skandalfrei. Erstaunlich ist, dass Wagner in gewisser Weise viel bürgerlicher war. Er hat sich nicht scheiden lassen, sondern gewartet, bis seine Minna gestorben war. Erst dann hat er Cosima geheiratet, evangelisch, nach allen Regeln – obwohl er schon drei Kinder von ihr hatte.
Konrad: Man darf nicht vergessen: Wagner war ein Linker! Man hat dann später vor allem den antisemitischen Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ ausgeschlachtet. Aber wenn man die gesamten Schriften betrachtet, sieht man, dass er von der revolutionären Grundeinstellung der Dresdner Zeit, also den 1840er Jahren, nie abgegangen ist. Er hat sie allerdings modifiziert und war später nicht mehr der Meinung, dass es der richtige Weg sei, alles in die Luft zu sprengen. Doch er hat immer geglaubt, dass grundsätzlich nur über eine Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse eine Veränderung des menschlichen Lebens erreicht werden könne. Und das revolutionärste Mittel, das es für Wagner gab, war die Kunst.
Konrad: Kein Künstler ist ganz unschuldig an der Rezeptionsgeschichte, die er auslöst. Bei Wagner, der sehr starke Rezeptionslenkung betrieben hat, ist das um so evidenter. Vieles von dem, was wir heute über ihn denken und wissen, wurde von ihm bewusst in die Welt gesetzt. Dass andererseits eine unglückselige Vereinnahmung stattgefunden hat, hängt mit der Familie zusammen, mit seiner Frau Cosima, den Chamberlains – also der Familie seines Schwiegersohns – und mit Schwiegertochter Winifred. Wagner selbst kann man dafür nur partiell verantwortlich machen.
Konrad: Ja. Wagner ist eben ein deutscher Komponist. Er wird nach wie vor mit einem Deutschlandbild verbunden, das uns schmerzt. Das sieht man auch im aktuellen deutschen Feuilleton. Bei den Artikeln der großen deutschen Zeitungen in diesem Jahr war der Aufhänger immer: Wagner, der furchtbare Kerl, der Antisemit. In Deutschland ist das Wagner-Bild immer auch ein Ausweis unserer Traumatisierung durch den Nationalsozialismus. Wir haben diese zwölf Jahre unserer Geschichte nicht wirklich aufgearbeitet, wir leiden, wir arbeiten dran, das beherrscht uns. Wagner ist auch ein Seismograf für die deutsche Befindlichkeit. Im Jubiläumsjahr lernte man bisher relativ wenig über Wagner. Aber sehr viel über Deutschland im Jahre 2013.
Der Würzburger Ulrich Konrad
Der Musikwissenschafter ist seit 1996 Professor an der Würzburger Universität. Ulrich Konrad, 1957 in Bonn geboren, hat sich zunächst international einen Namen als Mozart-Forscher gemacht. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit der Mozart-Medaille der Internationalen Stiftung Mozarteum und dem Leibniz-Preis.
In jüngerer Zeit widmet sich der Wissenschaftler intensiv Richard Wagner und seinem Werk. Seine Edition von „Tristan und Isolde“, erschie- nen Anfang dieses Jahres, wurde mit dem Preis „Best Edition“ausgezeichnet. Konrad leitet auch das auf 16 Jahre angelegte Projekt zur kritischen Ausgabe von Wagners Schriften zu Kunst, Gesellschaft, Politik, Philosophie und zum eigenen Werk – alles in allem sind rund 4000 Seiten überliefert. Text: hele, FOTO: UK