Die Realsatire ist nicht fern, wenn ein von Sparkassen-Instituten gestifteter Kleinkunstpreis an eine politische Kabarettistin verliehen wird, die Volkswirtschaft studiert und einige Zeit als Sparkassenangestellte gearbeitet hat. Im Lauf der Jahre hat sich Anny Hartmann aber zu einer der scharfzüngigsten politischen Kabarettistinnen im Lande gemausert. Und nun analysiert die 48-Jährige die Eigenheiten des kapitalistischen Systems zu Zeiten des Neoliberalismus so pointiert, dass die zur Preisverleihung des 23. Thüringer Kleinkunstpreises in der ersten Reihe der Meininger Kammerspiele sitzenden Bänker eigentlich den kollektiven Sprung aus den Fenstern im ersten Stock ihrer Institute planen müssten, um Abbitte zu leisten für ihren Beitrag zur Erhaltung eines Systems, das die Ungleichheit der Menschen befördert.
Aber nein: Michael Gisko von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen hält eine launig-solidarische Laudatio auf die Trägerin des mit 5555,55 Euro dotierten Preises. Und nach der Darbietung des lobpreisten Programms „NoLobby is perfect“ werden von den Veranstaltern Feinkosthäppchen kredenzt. Es gibt sie also noch, die Guten im System, die sich ihrer Verantwortung für Kunst und Kultur im demokratischen Widerstreit bewusst sind.
Die Anfütterungskultur der Lobbyisten
Insofern verbietet sich die Assoziation mit der von Hartmann persiflierten Anfütterungskultur, die Lobbyisten mächtiger Wirtschaftsverbände in den Vorräumen von Parteitagssälen für Politiker und Journalisten veranstalten, um sie gewogen zu stimmen, indem sie das empfindlichste Organ der Umworbenen ins Visier nehmen: die Eitelkeit. Oder sollte man etwa glauben, dass selbst böses politisches Kabarett längst von den Mächtigen umschlungen wird? Anny Hartmanns Schnellkurs in Sachen Verquickungen von Wirtschaft und Politik („Politik ist der Spielraum, den ihr die Wirtschaft lässt“) erinnert in Scharfsinn, Tempo und Treffsicherheit an die Vortragskunst von Volker Pispers. Einiges allerdings hat die Kabarettistin dem zunehmend dogmatisch wirkenden Pispers voraus: ihre Freundlichkeit, ihre Neigung zur Selbstironie und die unverbrüchliche Betrachtung des Menschen als lernfähigem Wesen, das erkennen könne, wie alles auf unserem Planeten mit allem zusammenhängt.
Angesichts der komplexen gesellschaftlichen Vorgänge drängt sich ihr immer wieder die Frage auf: „Wem nützt das?“ Unter dieser Prämisse kann sich die Wahrnehmung öffentlicher Debatten um Flüchtlinge sehr schnell verschieben: hin zur offensichtlichen Tatsache, dass weltweit Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden.
Die Meininger Kleinkunsttage bieten bis zum 3. November ein vielfältiges Kabarettprogramm, u.a. mit Michael Fitz, HG Butzko, TBC, Django Asül, Simone Solga und Max Uthoff. www.meininger-kleinkunsttage.de