Drama, Spannung und Unterhaltung: Giuseppe Verdis selten gespielte Oper „Die sizilianische Vesper“ regt den ganzen Menschen an. Der kann sich in den Sesseln des Mainfranken Theaters Würzburg drei Stunden lang fragen, ob nun sein Kopf oder sein Herz angesprochen wird. Natürlich beides, es ist schließlich Verdi.
Aber der Zuschauer hat es selbst in der Hand, ob er der laufenden Szene eher in seinem Hirn oder seiner Brust folgen will. Diese Wahlfreiheit bedeutet: So ganz in den Rausch des Geschehens lässt sich schwerlich abtauchen.
Das erledigt auf der Bühne das Quartett dreier Revoluzzer und eines Besatzers. Alle sind schwer gebeutelt von der Macht des Schicksals. Immerhin heben drei von diesen Vieren kurz mal den Kopf aus dem Strom und treffen Entscheidungen, die die Entwicklung noch zum Guten wenden könnten. Doch sie machen alles noch schlimmer.
Der Grund: Freunde und Feinde bewerten jede Handlung gegensätzlich. Die Sizilianer wollen ihre Insel vom Joch der Franzosen befreien. Die Fronten sind verhärtet, und wo sie es noch nicht vollends sind, werden sie von beiden Seiten für den großen Knall zurechtgeschmiedet. Vor diesem Hintergrund kann niemand auf den anderen zugehen. Denn das erscheint jeder Partei sofort als Verrat.
Verrat, Rache und Hass als Lieblingsvokabeln
Verrat, Rache und Hass sind die Lieblingsvokabeln des Hauptaufrührers Procida, den der Bariton Igor Tsarkov geschmeidig und – gemessen an der bösartigen Unversöhnlichkeit seiner Figur – geradezu weich gibt. Claudia Sorokina und Uwe Stickert singen als Liebespaar selbstverständlich Sopran und Tenor, und das mit einer großen Klarheit, die die Wärme ihres Gefühls geradezu überstrahlt.
Will man Procida als ihren Widersacher bezeichnen (was angesichts der laufenden Perspektivwechsel allerdings nicht ganz korrekt wäre), dann haben diese drei Vokalisten Nuancen ihrer Timbres untereinander vertauscht. Ein Element kippt ins andere, eins spiegelt das andere. „Die sizilianische Vesper“ liefert Dialektikern auf vielen Ebenen einen spannenden Prozess. Zumal den drei Attentatsplanern ihre Zielperson entgegensteht, der Gouverneur.
Der muss stimmlich ein Gegengewicht bilden. Und Federico Longhi schafft das äußerst voluminös, sicher und differenziert. Dass sein Charakter bei laufender Oper erfährt, dass einer der Feinde sein Sohn ist, funktioniert nur in der Fiktion, bringt die Fiktion aber sehr gut ins Funktionieren.
Um das Musikalische zu umreißen: Das handelnde Quartett ist fast nur von Chor und Extrachor umgeben, und diese Volksmassen – ein paar von ihnen sind abgeordnet zur Besatzerarmee – hat Chorleiter Anton Tremmel sehr gut auf ihre markanten Einsätze abgestimmt.
Packende Rhythmik auch in den lyrischen Passagen
Orchesterchef Enrico Calesso dirigiert den Soundtrack des Kriegsspiels, und unter seiner hochenergetischen Stabführung lässt das Philharmonische Orchester Würzburg Präzision und Differenziertheit hören. Vor allem aber richtig packende Rhythmik auch in den lyrischen Passagen.
Das alles steht im Dienst der einen großen Grundaussage dieser im französischen Original gesungenen und deutsch übertitelten „Vesper“: Die Liebe hätte eine Chance, wenn ihre Symbole über Ländergrenzen hinweg die Menschen ergreifen, wenn die binationale Heirat von einem einzigen Menschenpaar die nationalistischen Massen versöhnen könnten.
Fragt sich noch, wozu die Inszenierung dient. Regisseur und Bühnenbildner Matthew Ferraro verlegte die Handlung aus dem Hochmittelalter nicht in die Zeit der Uraufführung der „Vesper“, in den Kampf um die nationale Einigung Italiens, sondern in die Stummfilmzeit. Er rückte Italien aus dem Focus, die Franzosen aber mittenrein – für ein heutiges deutsches Publikum. Wir sehen blau uniformierte, rauchende Trinker im Dienst zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Damals waren die Franzosen für viele Deutsche der „Erbfeind“. Und der wird zum Finale hingemetzelt.
Aktualisierung gelungen – wenn man das heutige gute Verhältnis beider Nachbarländer betrachtet, und gleichzeitig die Frontverläufe globaler Auseinandersetzungen 2018. Außerdem erlaubt der Rückgriff auf den Stummfilm eine Menge Regie- und Beleuchtungseinfälle, die auf ideale Weise zugleich originell sind und dennoch ästhetische Einheit stiften. Großer Applaus bei der Premiere am Samstag vor voll besetztem Saal.