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Vom Steigerwald zur Biennale in Venedig: herman de vries und die Poesie des Augenblicks
herman de vries: Der 83-jährige Künstler vertritt sein Geburtsland Niederlande im Jahr 2015 bei der 56. Biennale in Venedig. Er wird auch Werke aus dem Steigerwald zeigen, den er seine „heimat“ nennt.
Katharina Winterhalter
Katharina Winterhalter
 |  aktualisiert: 22.07.2014 15:11 Uhr

Zweimal brachte herman de vries die Jury zum Lachen, die über seine Teilnahme an der Biennale in Venedig 2015 entscheiden sollte. Auf die Frage, ob er denn im Oktober nach New York zur Eröffnung der großen ZERO-Ausstellung im Guggenheim Museum reisen werde, an der er beteiligt ist, antwortete der 83-Jährige lapidar nein, dazu habe er keine Zeit. Im Oktober sei er in Venedig, um seine Ausstellung im niederländischen Pavillon vorzubereiten. Das war kein Scherz. Der im Steigerwald lebende Künstler glaubte fest daran, dass er sein Geburtsland nächstes Jahr auf dieser internationalen Kunstschau vertreten würde, die zu den wichtigsten weltweit zählt. Am Ende entschied sich die Jury denn auch einstimmig für herman de vries und sein Konzept, das er gemeinsam mit seinen beiden Kuratoren Colin Huizing und Cees de Boer entwickelt und persönlich in Amsterdam vorgestellt hatte.

Das zweite Mal lachten die Jurymitglieder, als de vries ihnen von seiner bislang vorletzten Reise nach Venedig 2011 erzählte. Damals war er an einer Gemeinschaftsausstellung im Palazzo Bembo beteiligt und nutzte den Aufenthalt zu einer Bootstour nach Murano. Unterwegs sah er zwei kleine Inselchen in der Lagune, auf denen völlig überwucherte Häuserruinen stehen. Sie erinnerten ihn an seine Sanktuarien – jene geschützten Orte, die er mit einem Zaun oder einer Mauer umgibt und in denen die Natur sich selbst überlassen wird. Menschen haben keinen Zutritt, können aber beobachten, was sich dort entwickelt. Vier Sanktuarien gibt es, in Stuttgart, Münster, in Südfrankreich und in Holland. herman de vries nahm sich vor, die heute unbewohnten Inseln in sein Ausstellungsprojekt aufzunehmen, sollte er eines Tages zur Biennale eingeladen werden.

Drei Jahre später, im Januar 2014, war es so weit. Der Autor und Kurator Cees de Boer, ein langjähriger Freund von herman de vries, sowie Colin Huizing, Kurator des Stedelijk Museum im niederländischen Schiedam – das ab 20. September eine große de-vries-Retrospektive zeigt – gaben eine Bewerbung für die 56. Biennale ab. Die Monate vor der endgültigen Entscheidung waren aufregend und anstrengend. Als klar war, dass herman de vries auf der Shortlist stand (der Auswahlliste der letzten fünf Künstler) reiste er mit seinem Team Anfang Mai für fünf Tage nach Venedig, um den niederländischen Pavillon zu besichtigen und die Lagune zu erkunden. Zum Team de vries gehören seine Frau Susanne, die Kuratoren Huizing und de Boer, Mitarbeiterin Marion Reißner und Sohn Vince, der die Arbeit seines Vaters filmisch dokumentiert.

Am Ende dieser fünf Tage stand die Präsentation unter dem Titel „to be all ways to be“. Mit diesem Satz, der sich in seine Bestandteile zerlegen und variabel neu zusammensetzen lässt, arbeitet herman de vries seit vielen Jahren. Kurz vor der Eröffnung der Biennale wird er ihn mit verkohlten Hölzern aus dem Steigerwald an die Stirnwand des Pavillons schreiben.

Das Gebäude ist eines von 28 Länderpavillons in den Giardini, dem Hauptschauplatz der Biennale. Er wurde 1954 nach den Plänen des bekannten niederländischen Architekten Gerrit Rietveld erbaut und ist ein wunderbarer, lichtdurchfluteter Ausstellungsraum. Dort wird herman de vries Arbeiten der letzten Jahre zeigen, aber auch solche, die speziell für diesen Ort entstehen. Im Herbst will er noch einmal nach Venedig reisen, um zu fotografieren und Material für ein 80 Seiten umfassendes „journal“ zu sammeln: Erden, Pflanzen, Algen und Seetang aus der Lagune, dazu Artefakte, also gefundene Dinge, die für das Leben in dieser Stadt stehen. Ein „journal“ ist eine Art Protokoll eines bestimmten Zeitraums, den herman de vries in einer bestimmten Gegend verbringt.

Derzeit arbeitet der 83-Jährige an der 80-teiligen Serie „from the world“. Dafür reibt er Erden auf Papier aus, die er und Freunde aus aller Welt mitgebracht haben, beispielsweise vom Berg Kailash in Tibet, von den Pribilof-Inseln in der Beringstraße, aus der Baikalregion in Sibirien oder aus seinem Heimatort Eschenau. Eine vergleichbare Serie mit 55 Erden aus dem Steigerwald und den Haßbergen ist bis 19. Oktober in der Kunsthalle Schweinfurt zu sehen – eine Schenkung des Künstlers an die Stadt Schweinfurt.

Vor wenigen Wochen hat herman de vries vom Platz des Sonnwendfeuers in Eschenau verbrannte Baumstämme mitgenommen. Sie sind so groß und schwer, dass sie nur Platz im Scheunen-Atelier haben, bis sie nächstes Jahr nach Venedig transportiert werden. Zum ersten Mal ausgestellt wird die Sammlung von rund 110 Sicheln. Die meisten hat herman de vries auf seinen Reisen, einige auch in Franken, gekauft. „Die Sichel ist eines der ältesten Werkzeuge. Mit ihr beginnt unsere Kultur“, beschreibt er kurz und prägnant die Bedeutung dieses einfachen Werkzeugs.

Einen engen Bezug zur fränkischen Region, die herman de vries seine Heimat nennt, hat die Arbeit mit dem Titel „renata“. Es ist eine Ausreibung mit der Asche vom Feuer der letzten Hexenverbrennung, am 21. Juni 1749 im „Hexenbruch“ bei Würzburg. Renata war Nonne in Würzburg, sie wurde beschuldigt, andere Nonnen verhext zu haben. „sie war die letzte hexe, die im deutschen reich von kirche und justiz ermordet wurde. die verbrennung fand auf gebrauchten pechfässern in einem steinbruch statt, dem ,hexenbruch‘“, heißt es in einem Text von herman de vries. Eine frühere Assistentin suchte für ihn Verbrennungsreste und fand sie in einer Tiefe von rund 30 Zentimetern. Renata wurde nie rehabilitiert. Die Ausreibung soll an Zigtausendfaches im Namen von Glauben oder Aberglauben begangenes Unrecht erinnern.

Auch das Erinnern gehört zum Werk von herman de vries. Alle seine Arbeiten präsentieren ein Erlebnis, eine Wahrnehmung. Er geht, schaut, beobachtet, wählt aus, sammelt und zeigt es, ohne die Dinge mit Bedeutung aufzuladen. Sie sind, was sie sind. Das kann Kohle vom Sonnwendfeuer sein, trockene Gräser, die er im Winter abschneidet und hinter Glas präsentiert, oder Rosenknospen, die er in einem Kreis ausbreitet (beides in Venedig zu sehen). Was er auswählt, wird von dem Gefühl bestimmt, das de vries selbst mit „die poesie des augenblicks“ umschreibt. Jedes andere Ding könne freilich als ebenso bedeutsam angesehen werden.

Dass herman de vries nicht nur den Pavillon bespielt, sondern auch die berühmte Lagune einbezieht, hat der Jury sehr gefallen. Auf eines der Inselchen, das „Lazzaretto Vecchio“, wurden im 14. Jahrhundert die Pestkranken gebracht. Ein Gebäude ist restauriert, die anderen sind eingestürzt und überwuchert. Bei seinem Besuch im Mai sah herman de vries den blühenden Holunder, der durch die Fenster kletterte, er sah Vögel und Eidechsen und genoss die Stille. Das zweite Eiland, „Octagon Alberoni“, kann nur vom Boot aus betrachtet werden. Auf dem achteckigen ehemaligen Fort am Eingang der Lagune hat die Natur die Macht übernommen. In den Jahrzehnten hat sich ein wunderbarer Baumbestand entwickelt. Einem dritten Inselchen, das er zum Ort der Aufmerksamkeit erklärt, droht die Gefahr, von einem Investor erworben zu werden, der ein Hotel errichten will. de vries und Cees de Boer haben sich einer Venediger Bürgerinitiative angeschlossen, die die Insel kaufen und als Biotop erhalten will.

Während der Biennale vom 9. Mai bis 22. November 2015 organisiert die Mondrian-Stiftung, die den niederländischen Auftritt verantwortet, Bootsexkursionen zu vier kleinen Inseln, die normalerweise nicht besucht werden können. „Man sieht dort, wie die Natur die Hinterlassenschaften der Menschen übernimmt“, sagt herman de vries.

Die Beziehung zwischen Mensch, Kultur und Natur werde zunehmend ein Thema in der bildenden Kunst. herman de vries arbeite seit Jahrzehnten daran, schreibt die Jury in ihrer Begründung. Seit mehr als 60 Jahren habe er ein vielseitiges Werk geschaffen, in dem Kunst, Wissenschaft und Philosophie mit der Realität dieser Welt konfrontiert sind. Die Jury war fasziniert von der Eindringlichkeit seines Werks und erwartet eine kraftvolle Verbindung von Strenge und Poesie, eine gleichzeitig intime wie höchst aktuelle Präsentation.

Und herman de vries? Trotz der enormen Anstrengung, die mit dieser Aufgabe verbunden ist, trotz der zahlreichen Anfragen von Journalisten und Leuten aus der Kunstszene, die mit ihm sprechen wollen, trotz der Werke, die noch realisiert werden müssen, ist der 83-Jährige sehr gelassen und voller Vorfreude. Mit seinem Humor bringt er das Team auch an langen Tagen zum Lachen, und manchmal, wenn er zu erschöpft ist, um zu denken, gelingen ihm wunderbare kleine Gedichte oder Zeichnungen.

herman de vries

herman de vries wurde 1931 im niederländischen Alkmaar geboren. Als Kind liebte er die Natur, als junger Mann arbeitete er in einem Institut für angewandte biologische Forschungen und befasste sich intensiv mit Philosophie. All das prägte seine Entwicklung zum Künstler. Seit Jahrzehnten schreibt er alles klein, aus der Ablehnung jeglicher Hierarchie heraus. Seit 1970 lebt er in Eschenau im Steigerwald, den er seine Heimat und sein Atelier nennt.

Das Stedelijk Museum Schiedam zeigt ab September eine Retrospektive. Im Oktober ist herman de vries an der Ausstellung „ZERO: Countdown to Tomorrow“ im Guggenheim Museum in New York beteiligt. Die Biennale di Venezia ist eine seit 1895 zweijährlich stattfindende internationale Kunstausstellung. Hauptschauplatz sind die Giardini im Stadtteil Castello, wo sich 28 Länder in ihren nationalen Pavillons präsentieren.

Sammeln: verkohlte Baumstämme vom Sonnwendfeuer
Foto: Katharina Winterhalter | Sammeln: verkohlte Baumstämme vom Sonnwendfeuer
Fotografieren: de vries auf einer der Inseln
| Fotografieren: de vries auf einer der Inseln
 
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