Man weiß, dass man in politisch bewegten Zeiten lebt, wenn der französische Dirigent eines französischen Orchesters nach einen Konzert mit Werken von Dukas, Debussy und Ravel folgende Ansage macht: „Wir haben heute nur französische Musik gespielt. Aber wir sind gar nicht nationalistisch.“ Musik eigne sich vielmehr bestens, um zu zeigen, wie fremde Kulturen die eigene bereichern können. Zum Beispiel die Zugabe: ein Adagietto von Bizet – unüberhörbar Inspiration für das Adagietto in Mahlers Fünfter.
François-Xavier Roth, Gründer und Dirigent des fabelhaften Sinfonieorchesters „Les Siecles“ (die Jahrhunderte), erntet dafür demonstrativen Beifall im sehr mäßig gefüllten Max-Littmann-Saal des Regentenbaus beim Kissinger Sommer. Und für einen Satz von ebenso großer Einfachheit wie Tiefe: „Die anderen sind keine Gefahr!“
Lauter Individualisten spielen wie ein Mann (oder eine Frau)
Tatsächlich zeigt an diesem Abend die Musik selbst, wie unterschiedlich (Orchester-)Kulturen schon zwischen zwei Nachbarländern sein können. „Les Siecles“ sind kein institutionelles Orchester, sondern der Zusammenschluss Gleichgesinnter, denen ein verblüffender Effekt gelingt: Lauter Individualisten spielen wie ein Mann (oder eine Frau) – mit sachlicher Empfindsamkeit und eleganter Wucht, tatsächlich sehr so, wie französische Kunst gerne aus deutscher Sicht beschrieben wird.
Paul Dukas' „Zauberlehrling“ kommt leicht angeraut, bewusst nicht blankpoliert wie etwa bei Mariss Jansons. Schlüssig, ist hier doch die Grenze zwischen Ordnung und Chaos thematisiert. Lässig dagegen Debussys „Prélude a l'apres-midi d'un faune“ – Roth nimmt den Titel „Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns“ wörtlich: es passiert (noch) nichts, alles ist Vorahnung.
Hier wird nicht mystifiziert, hier wird nicht psychologisiert
„La Mer“ hingegen wird zum Lehrstück französischer Direktheit: Hier wird nicht mystifiziert (anders als etwa Karajan, der den Anfang in „Rheingold“-Nebel hüllt), hier wird nicht psychologisiert. Es ist, was es ist. So geht dann zwar die Sonne etwas sehr zügig auf, dafür gibt es viel zu staunen über lupenreines Blech und vitale Streicher. Anstelle eines „Verweile doch“, tritt die Unerbittlichkeit der Zeit.
Alice Sara Ott, die Münchner Pianistin, Solistin in Ravels G-Dur-Klavierkonzert, passt da sehr gut hinein: Sie beherrscht die ganze Palette zwischen lässigem Swing, beinhartem Akzent und beseelter Kantilene. Beeindruckend. Roths Version von Ravels „La Valse“ wiederum huldigt virtuos der Überfülle an Anspielungen und Überzeichnungen. So klingt es, wenn Strukturbewusstsein auf die Parodie der Struktur trifft. Spannend.