Ein Vater kann sich nicht entscheiden, welchem seiner drei Söhne er einen wertvollen Ring vermachen soll. Also lässt er zwei Kopien anfertigen: Die „Ringparabel“ – angelehnt an Boccaccios „Decamerone“ – gilt als Herzstück von „Nathan der Weise“. Intendant Markus Trabusch hat das Stück von Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) am Würzburger Mainfranken Theater inszeniert. Die Produktion ist ein Publikumshit.
Markus Trabusch: Ich habe versucht, den Begriff „Ringparabel“ aus den Proben zu verbannen. Man darf nicht vergessen: Das ist nur ein kleiner szenischer Ausschnitt aus dem „Nathan“. Lessing baut eine Situation auf, in der Nathan unter Druck gerät. Nathan ahnt sehr wohl, dass die Frage nach dem richtigen Glauben, die ihm Sultan Saladin stellt, eine Falle ist, und er versucht, eine möglichst intelligente Geschichte zu erzählen, die ihm in diesem Augenblick einfällt. Saladin ist es zuwider, diese Frage zu stellen – er wird letztlich von seiner Schwester Sittah dazu genötigt.
Da trifft also einer, der sich verstellen muss – Saladin –, auf einen anderen – Nathan –, der fürchtet, das Ganze solle dazu dienen, ihm ein Leid anzutun. In diesem Kontext ist diese „Szene der Weisheit der Wüste“, wie ich sie gerne nenne, zu verstehen. Dieser Kontext erinnert einen auch daran, dass man an der Geschichte Zweifel haben kann, soll und muss.
Trabusch: Die Geschichte, die Nathan dem Sultan erzählt, ist nicht nur auf Religion bezogen. Es geht auch um das Nachfolgerecht. In der Gesellschaft, in der das Stück spielt, gilt das Recht des Erstgeborenen. Nathans Erzählung setzt dieses Gesetz außer Kraft. Ein Ring wird über Generationen hinweg vom Vater an denjenigen
Sohn vererbt, der ihm der liebste ist und nicht an den Erstgeborenen – das ist schon die erste gedankliche Volte.
Nun bringt einer das nicht übers Herz, weil er seine drei Söhne gleich lieb hat. Das ist der Link zu den drei Religionen. Aber ob Nathans Erzählung wirklich eine Aussage über das Zusammenleben der Religionen macht? Ich bin da skeptisch, denn: Die Argumentation läuft ja so, dass keiner weiß, welcher Ring der wirkliche gewesen sein könnte.
Es geht also nicht um den Ring, sondern um das Verhalten des Trägers. Es geht darum, anderen als angenehm zu erscheinen, denn das ist ja die Eigenschaft, die der Ring verleihen soll. Letztlich ist das ein Handlungsauftrag, sich so zu verhalten, dass man auch bei anderen Religionen beliebt sein kann.
Trabusch: Weil man nicht sagen kann, welcher der vermeintlich echte Ring ist, tritt der religiöse Aspekt ein Stück weit zurück. Ob Sie an einen gelben Gott glauben und ich an einen grünen, ist letztlich egal. Wir müssen uns nur richtig verhalten.
Trabusch: Die Möglichkeit, dass ein Ring echt sein könnte, besteht. Das geht aber aus der Geschichte nicht wirklich hervor. Denn es heißt ja, dass selbst der Vater die Ringe nicht unterscheiden kann. Vielleicht steckt darin auch die Möglichkeit, dass keiner der echte Ring ist.
Trabusch: Von der Möglichkeit, dass keiner der Ringe echt ist, kann man getrost ausgehen, finde ich.
Trabusch: Nein, das sagt er nicht. Man muss wieder den Gesamtzusammenhang sehen. Nathan ist ein Mann, der von der Auslöschung seiner Familie aus religiösen Gründen zutiefst erschüttert ist. Und sich sozusagen in der Liebe zu einem Säugling – Recha – daran erinnert, dass es bestimmte Werte geben muss. Die versucht er zu leben. Letztlich versucht er, sich über eine extreme Rationalität ein gedankliches Korsett zu verpassen, damit er die Welt aushalten kann.
Aber seine Vernunft stößt schon in der ersten Szene an Grenzen, als er Recha davon überzeugen will, dass sie nicht von einem Engel aus dem Feuer gerettet wurde, sondern von einem Tempelherrn. Die Tochter ist jedoch mit Argumenten nicht von dieser Engelsgläubigkeit wegzubringen. Auch sie argumentiert ja scheinbar rational, wenn sie sagt: Es kann kein Tempelherr gewesen sein, weil wir doch wissen, dass Tempelherren nachts nicht alleine durch Jerusalem laufen – sie würden ja nicht am Leben bleiben.
Ich habe versucht, in meiner Inszenierung schon in der Anfangsszene die Grenzen der Aufklärung aufzuzeigen, wenn Sie so wollen.
Trabusch: Ja. Kann man das nicht so sagen? Und das Übersteigende, also das, was der Vernunft nicht zugänglich ist, muss auch irgendwie verwaltet werden. Manche tun das mit Religion.
Trabusch: Lessing musste sich in einem religiösen Umfeld auch verteidigen. Man hat ihm vorgeworfen, er komme sozusagen vom rechten Glauben ab. Ich finde: Jemand, der so ein Stück schreibt und einen Juden zum Freund hat – „Nathan“ ist letztlich auch das Denkmal für Moses Mendelssohn –, kann nicht glauben, dass seine Religion die einzig wahre sei.
Trabusch: Ich mache das, um zu zeigen, dass es schon seit Jahrhunderten in unserer Kulturgeschichte Auseinandersetzungen um Religion gab mit Fragen, die unmittelbar mit uns heute zu tun haben. Die Aktualität ist ja erschreckend: Welches ist die wahre Religion? Das erklären uns heute irgendwelche Attentäter sehr deutlich. Sie sind dermaßen überzeugt, dass ihre Religion die wahre ist, dass sie dafür sogar bereit sind zu sterben. Insofern bekommen wir eine Religionsdebatte aufgezwungen von einem religiös-fanatischen Terror – falls der überhaupt religiös ist. Es gibt ja viele – auch Islamgelehrte – die sagen, das hätte mit Islam nicht wirklich etwas zu tun. Aber ich habe „Nathan“ ja nicht alleine an den Anfang der Spielzeit gestellt. Es gab am Folgeabend Meyerbeers „Die Hugenotten“, wo erzählt wird, wie 3000 Protestanten in der Bartholomäusnacht vom 23. zum 24. August 1572 von Katholiken erschlagen worden sind. Das ist die Größenordnung des 9/11-Anschlags auf die Twin-Towers! Hinter beidem stecken zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend, religiöse Motive. Die Aufgabe von Theater ist: das kulturelle Erbe zu befragen, darzulegen und zur Diskussion zu stellen. Bei den genannten Werken zeigt sich dabei eine unglaubliche Aktualität.
Trabusch: Vernunft ist das Beste, was wir haben. Theatermachen ist auch ein Plädoyer für Vernunft, selbst wenn man immer wieder auf die Grenzen der Vernunft hinweist. Ich glaube übrigens, dass das der Punkt ist, der mich zum Theater getrieben hat: die Möglichkeit, Geschichten von Grenzfällen zu erzählen, in denen die Vernunft nicht mehr ausreicht.
Trabusch: Ja. Das sind Sätze von unglaublicher Weisheit, die im „Nathan“ mit relativ hoher Frequenz geäußert werden. Auch die Art und Weise, wie Saladin Nathans Geschichte folgt, sich von ihr gefangen nehmen lässt, ist beeindruckend. Das meinte ich mit der „Weisheit der Wüste“.
Der Begriff kommt von einer israelischen Regisseurin, die im Sommer hier zu Besuch war, ein paar „Nathan“-Proben gesehen hat und auch eine szenische Lesung von „Nathan“ in Israel inszeniert hat. „Weisheit der Wüste“, das ist für sie sozusagen der zentrale Begriff für diese beiden Männer – den Muslim und den Juden – die da zusammentreffen.
Nächste „Nathan“-Vorstellung: 29. Dezember. Weitere Aufführungen im Januar und Februar. Karten: Tel. (09 31) 39 08-124