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Uwe Timm: Warum Liebe auch Arbeit ist
Uwe Timm: Internet und soziale Netzwerke treiben die Vereinzelung voran, meint der renommierte Autor. Ein Gespräch über das Abenteuer menschlicher Beziehungen, wahren Reichtum und alte Autos.
Uwe Timm: „Wie viel sind wir bereit, dem Internet an Informationen aus unserem privaten Leben zu geben?“
Foto: Inge Zimmermann | Uwe Timm: „Wie viel sind wir bereit, dem Internet an Informationen aus unserem privaten Leben zu geben?“
Das Gespräch führte Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 11.12.2019 19:45 Uhr

Es geht um die Macht des Begehrens. Hinter der Liebesgeschichte entrollt Uwe Timm in „Vogelweide“ Gesellschafts- und Zeitkritik. Hauptfigur Eschenbach verliert Firma, Freundin und Geliebte. Er landet als Vogelwart auf einer Insel in der Elbmündung.

Frage: In Ihrem Roman „Vogelweide“ verspüre ich – mindestens unterschwellig – ein Misstrauen gegen aktuelle elektronische Kommunikationsformen . . .

Uwe Timm: Zumindest bei der Hauptfigur Eschenbach ist das so, obwohl er aus dem Gewerbe kommt: Er leitet eine Software-Firma und ist da ja eine Zeit lang sehr erfolgreich. Aber nach und nach wird ihm bewusst, wie problematisch das alles ist. Er steckt in einer Beschleunigungsschleife – und fliegt da plötzlich raus. Er geht in Konkurs. Ich denke, das Interessante ist, dass er nicht wieder in seinem Beruf anfängt und zumindest für ein halbes Jahr still auf einer Insel sitzt und Vögel zählt.

Computer und Internet haben unsere Gesellschaft verändert.

Timm: Das ist eine Entwicklung, die ich richtig dramatisch finde. Und zwar einmal – rein ökonomisch – wegen der Optimierungsmomente. Doch das Internet wirkt sich auch auf die Emotionalität aus. Die Vereinzelung des Menschen wird weiter vorangetrieben, Spontaneität, Leiblichkeit werden immer weiter zurückgedrängt.

Virtuelle Freunde sind halt leichter zu pflegen als echte.

Timm (lachend): Ja, absolut.

Bei Facebook beispielsweise findet geradezu eine Inflationierung der Bedeutung des Wortes „Freund“ statt . . .

Timm: Diese Aussage kann ich voll und ganz unterschreiben. Das Kennelernen und der Umgang miteinander erfordern im guten Sinn Arbeit. „Liebe ist auch Arbeit“, hat schon Erich Fromm gesagt. Sie kennen das auch: Da kommt jemand zur Tür herein, und man mag ihn, oder man mag ihn nicht. Diesen ersten Eindruck kann man aber mit der Zeit korrigieren. Ein auf den ersten Blick unangenehmer Typ kann sich als moralisch und anständig zeigen. Genau das ist natürlich das Spannende an Freundschaft, an Begehren, an Liebe: Es ist auch ein Abenteuer. Im Internet weiß man schon so viel vom anderen, von der Schuhgröße bis zum Ort, wo er sich gerade aufhält. Ganz entscheidend ist, dass sich dadurch auch die Emotionalität ändert. Der Moment des Abenteuers, der das Scheitern ebenso beinhaltet wie eine wahnsinnige Liebe, wie sie im Roman beschrieben ist, ist weg.

Nun hat alles, was mit dem Internet zusammenhängt – von Social Networks bis zu Partnervermittlungen – eine Eigendynamik, der sich keiner entziehen kann.

Timm: Ich sage ja nicht, dass man den Hebel umlegen und die gesamte Entwicklung auf ein anderes Gleis leiten könnte. Aber der Einzelne kann sich entziehen. Und jetzt, da man weiß, dass alle Daten abgegriffen werden (lacht) . . .

. . . das ist doch auch eine Gefahr!

Timm: Eschenbachs Verweigerung lässt zumindest die Frage auftauchen: Wie gehen wir damit um? Wie viel sind wir bereit, dem Internet an Informationen aus unserem privaten, individuellen Leben zu geben? Eschenbachs Position ist schon interessant – wenn sie auch nicht unbedingt meine ist. Wobei ich nicht bei Facebook bin und mich aus diesen ganzen Dingen raushalte. Aber dadurch, dass ich Mails schreibe, bin ich natürlich genauso gläsern wie Sie, die Sie in der Redaktion am Computer arbeiten.

Eschenbach ist ja nicht freiwillig ausgestiegen und auf die Insel gezogen.

Timm: Das ist richtig. Er wurde durch seinen Konkurs dazu gezwungen. Es ist aber ein Anstoß. Und Katastrophen haben ja auch ein Moment der Katharsis, der Reinigung. Man denkt drüber nach, wie man weiterleben will. Eschenbach hätte sich entschulden können. Das Insolvenzrecht sagt, nach fünf Jahren kann man wieder weiterarbeiten. Das tut er eben nicht. Das finde ich an der Figur auch so interessant: Da ist einer, der sich entzieht. Der Nein sagt.

Welches von Eschenbachs Leben ist nun das bessere: das mit Computer-Job, Geld und Luxus-Loft, oder das auf der einsamen Insel?

Timm: Ich kann da auch keine Wertung vornehmen. Für mich wurde aber klar: Das Leben, das nur auf Optimierung und letztlich nur auf Konsum ausgerichtet ist, kann so nicht weitergehen.

Die moderne Technologie drängt uns ihre eigene Zeit auf.

Timm: Ja. Darunter leiden wir natürlich alle.

Zitat aus dem Buch: „Ich bin reich geworden, dachte Eschenbach, ich habe Zeit, ich nehme mir die Zeit.“ Zeit ist Reichtum?

Timm: Absolut! Eschenbach nimmt sie sich, er ist reich geworden. Die Stelle ist ein Zentrum des Romans.

Aber wir kommen als Gesellschaft wohl nicht raus aus der Beschleunigungsschleife, wie Sie das eben genannt haben. Wo führt das hin?

Timm: Der Roman gibt keine Antworten, stellt nur Fragen, zeigt nur Widersprüche auf – weil ich auch keine Antworten darauf habe. Aber ich kann zumindest die Probleme genau beschreiben, das ist eine Qualität von Literatur.

Es geht darum, den Finger in Wunden zu legen – sehen Sie so Ihre Aufgabe als Autor?

Timm: Unbedingt. Man muss Dinge thematisieren, die in der Gesellschaft ganz selbstverständlich ablaufen, ohne dass noch jemand drüber nachdenkt. Dabei geht es nicht darum, in irgendeiner Weise pädagogisch rumzufuchteln und zu sagen: Das muss so sein oder so. Man muss es nur beschreiben und bewusst machen.

Es kann wohl auch niemand wissen, wie es richtig sein muss.

Timm: Das geht nicht, nein. Sonst wäre ich auch Politiker geworden. Die wissen es. Oder behaupten es jedenfalls.

Wie eng hängen Sie mit Ihrem Werk zusammen?

Timm: Flaubert hat gesagt: „Madame Bovary, das bin ich.“ Das sagt doch alles. Ich stecke natürlich in den Figuren drin, ohne dass das biografisch stimmt, ohne dass ich etwa diese Beziehungs- und Liebeskatastrophe wie in „Vogelweide“ erlebt hätte. Ich bin seit 40 Jahren verheiratet und gut verheiratet. Aber die eigenen Probleme, die eigenen Ängste, die man als Autor hat, die schreibt man anderen Menschen und anderen Figuren zu.

Eschenbach fährt einen alten Saab, den er selbst restauriert hat. Darüber schreiben Sie sehr liebevoll . . .

Timm: Ich würde so etwas auch gerne machen, aber ich schaff's nicht, bin auch technisch zu unbegabt. Aber ich finde diese alten Wagen sehr faszinierend.

Der Oldtimer ist im Roman wohl auch ein Symbol des Alten und Ehrlichen aus einer Zeit, in der es noch keine Elektronik gab und man noch mit Handwerk weiterkam.

Timm: Das ist ja auch etwas, was Eschenbach an seiner Freundin, der Silberschmiedin, so fasziniert: Da kann er sehen, wie etwas durch Handarbeit entsteht, wenn er genervt aus dem Büro kommt und sie in ihrer Werkstatt besucht.

Uwe Timm

Geboren am 30. März 1940 in Hamburg. Nach einer Kürschner-Ausbildung holte er das Abitur nach und studierte Germanistik und Philosophie. Seit 1971 arbeitet Timm als freier Schriftsteller. Er lebt heute in München.

An den 68er-Protesten war Timm aktiv beteiligt. Sein Freund Benno Ohnesorg wurde 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah erschossen.

Bekannte Werke von Uwe Timm: „Heißer Sommer“, „Die Entdeckung der Currywurst“, „Am Beispiel meines Bruders“, „Rennschwein Rudi Rüssel.“ Am 22. Oktober kommt der Autor zu einer Lesung in die Würzburger Stadtbücherei (ausverkauft).

 
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