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Urs Widmer reist an den Rand des Universums
Urs Widmer
Foto: dpa | Urs Widmer
dpa
 |  aktualisiert: 08.01.2016 11:06 Uhr

Seinen ersten Orgasmus hatte Urs Widmer mit Audrey Hepburn. Wie vieles in seiner Autobiografie schildert der Schweizer seine „Explosion der Triebe“ als 16-Jähriger („Ich war auch in Triebfragen ein Spätzünder“) ehrlich, unbekümmert und humorvoll. Die Hollywood-Schönheit habe er nicht im Bett gehabt, sondern nach einem besonders eindrucksvollen Kinobesuch im Kopf – „meiner Erinnerung nach nicht einmal nackt, sondern so, wie sie im Film war“.

Mit schönem Sprachwitz und gnadenloser Selbstironie schaut der Schriftsteller zurück. Aber nicht auf sämtliche seiner 75 Jahre. Das wäre dem 1938 in Basel geborenen Sohn des Übersetzers und Kritikers Walter Widmer, zu dessen Freunden Heinrich Böll gehörte und bei dessen literarischen Abenden Erich Kästner und Günter Grass gern zu Gast waren, wohl irgendwie zu endgültig, zu unabänderlich erschienen.

Die ersten drei Jahrzehnte, entschied Widmer, sollten genügen. Seine „Reise an den Rand des Universums“ beginnt mit diesen Worten: „Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch.“ Da bleibe kein „Erinnerungsrätsel“ mehr übrig. So gesehen kann das Buch also nur als erster Band durchgehen; es bleiben noch etliche Rätsel aus fast fünf anderen Jahrzehnten. Doch was für ein Auftakt! In stilistischer Leichtigkeit, gepaart mit Faktentreue, führt uns dieser Wortzauberer Landschaften, Menschen und Geschehnisse vor Augen wie ein Träumemacher – und das alles eingebettet in drei historisch besonders bedeutende Jahrzehnte.

Gezeugt wird Urs von Anita und Walter Widmer in einer Alpenhütte. Unweit des Flusses Lonza, dessen Tosen sämtliche Geräusche des Aktes übertönte, wie der Autor zumindest vermutet. Geboren wird er gut ein Jahr vor dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen. Eine Kindheit auf einer Insel der Glückseligen, umzingelt von Tod und Verderben. Oft mit einem diffusen Gefühl der Angst.

Zu leicht werde vergessen, schreibt Widmer, dass die Schweizer damals nicht wissen konnten, ob sie wirklich von der Katastrophe verschont bleiben würden. „Die Prognosen waren nicht gut, und mindestens bis Stalingrad musste jeder, der seine fünf Sinne beisammen hatte, damit rechnen, dass die Wehrmacht früher oder später einmarschieren würde.“ Der historische Bogen reicht bis tief in den Kalten Krieg. Mauerbau, Kubakrise, Vietnam. „In den Manövern der Schweizer Armee kam der Feind immer von Osten und war immer rot. Die Blauen, die für die sich verteidigenden Schweizer standen, gewannen immer.“

Eine Autobiografie, die ein großer Roman und zugleich ein Geschichtsbuch ist, dessen Autor der Selbstironie frönt: „Ich hatte einen Kopf wie eine Birne, weil ich mit einer Zange ins Freie befördert werden musste. Wenn mein Vater es mir erzählte, schüttete er sich aus vor Lachen. Ich war aber gesund, außer dem Hirn war nichts zerdrückt worden.“

Auch Unglück stellt er ganz offen dar – die Depressionen der Mutter etwa oder den Tod des Vaters, dessen Sterben im Badezimmer der Sohn hilflos mit ansah.

Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums (Diogenes, 352 Seiten, 22,90 Euro)

 
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