Wie der Horst des Adlers, mitten in seinem Jagdrevier hoch in den Bergen“ liege die Stadt, und sie sei „das größte Wunder“, das er je geschaut habe. Sinuhe berichtet von „berghohen Bauten und Mauern“ und prächtig gekleideten Bewohnern. Mika Waltari schickte, mit viel dichterischer Fantasie, seinen Ägypter Sinuhe um 1350 vor Christus in die Hauptstadt der Hethiter. Heute ist Hattuscha, etwa 150 Kilometer östlich von Ankara gelegen, eine bedeutende Ruinenstätte und ein Weltkulturerbe.
Wissenschaftler bemühen sich, ein Bild zusammenzusetzen von der Stadt und ihrer einstigen Größe, vom Alltag der Hethiter und von ihrer Kultur. Bruchstück für Bruchstück. Vor Ort forschen und graben Archäologen. Und an der Würzburger Universität arbeiten Wissenschaftler an einem Projekt, das Licht auf das Leben in Hattuscha werfen kann. Auch die Forschung nach anderen alten Kulturen kann von der Arbeit der Würzburger Altorientalisten profitieren. Professor Dr. Gerfrid Müller und Dr. Michele Cammarosano nutzen ein spezielles Computerprogramm, das hilft, Keilschrift (siehe Kasten) zu entziffern und einzuordnen. Gerfrid Müller erforscht die Technologie seit 15 Jahren. Auch Wissenschaftler aus Dortmund und Mainz sind an dem interdisziplinären Projekt beteiligt.
Grundlegendes Problem bei der Arbeit mit Keilschrifttexten: Sie liegen meist in Fragmenten vor. Oft sind die Bruchstücke auf mehrere Orte verteilt. „Fragmente aus Hattuscha lagern in Ankara, in Istanbul und in Berlin“, erklärt Professor Müller. Oft sind sogar Teile desselben Textes verstreut. Die empfindlichen Originale zu transportieren und zusammenzubringen, ist in der Praxis schwierig bis unmöglich. Und hier kommt der „CuneiformAnalyser“ ins Spiel. Das spezielle Computerprogramm arbeitet mit virtuellen Tontafeln. Die verschleißen nicht. Sie zerbrechen auch nicht.
Weltweite Datenbank
Dreidimensional dargestellte Bruchstücke lassen sich am Bildschirm in jede gewünschte Richtung drehen. Teilbereiche lassen sich extrem vergrößern. Auf Wunsch färbt der Computer das Fragment unterschiedlich ein, was unter Umständen die Schriftzeichen deutlicher hervorhebt. Derartige 3-D-Darstellungen am Computer sind an sich nichts Besonderes. Das Keilschrift-Programm kann aber auch undeutliche, abgeriebene Stellen besser lesbar machen. Es kann einzelne Eindrücke des Schreibgriffels exakt vermessen, kann Charakteristiken einer Schrift hervorheben. Das erleichtert es, die Texte zu datieren und bestimmten Schreibern zuzuordnen.
Das Programm kann zudem Textfragmente wie Puzzleteile zusammenfügen. Dabei muss es alle drei Raumdimensionen berücksichtigen, weil Keilschrifttexte häufig nicht auf plane Oberflächen geschrieben wurden.
Michele Cammarosano zeigt die Nachbildung eines Fragments. Es hat die Form eines Kissens, auch die rundlichen Ränder sind mit Zeichen übersät. Spezielle Scanner und digitale Darstellungstechniken kriegen selbst das hin. Natürlich forschen die Altorientalisten auch an Originalen. Diese Möglichkeit besteht aber oft nicht. Bisher musste man dann mit Gipsabgüssen arbeiten, mit Fotos – oft in Schwarz-Weiß –, mit Abzeichnungen und mit der Lupe. Ein dreidimensionales, drehbares Bild mit modernen digitalen Möglichkeiten stellt da eine Revolution dar. Mittelfristig soll eine Keilschriftdatenbank entstehen, auf die Wissenschaftler weltweit Zugriff haben. Bislang unbekannte Zusammenhänge könnten zum Vorschein kommen. Der Überblick über den Fragmenten-Berg würde besser.
Bevor man mit Bruchstücken virtuell arbeiten kann, müssen freilich erst einmal die Teile aus der wirklichen Welt gescannt werden. Darum kümmern sich Projektleiter Gerfrid Müller und Michele Cammarosano. Mit einem Hochleistungsscanner sind sie immer wieder dort, wo Keilschrift-Teile aus der Hethiterhauptstadt lagern.„An die 2000 Fragmente haben wir bisher gescannt“, sagt Müller. „Es geht jetzt viel schneller als zu Beginn – dank der Fortschritte in der Computertechnik.“ Trotzdem gibt es noch viel zu tun für ihn und seine Mitarbeiter: „Man hat bislang etwa 30 000 Fragmente in Hattuscha gefunden“, so Müller. Nachdem dort noch immer gegraben wird, wird es bei dieser Zahl wohl nicht bleiben.
Mehr als genug Arbeit
Professor Müller und sein Team konzentrieren sich auf Texte aus Hattuscha. Die Methode lässt sich jedoch prinzipiell auf alle Keilschrift-Texte anwenden – mehr als genug Arbeit für die nächsten Generationen von Altorientalisten: Müller schätzt die Gesamtzahl der bisher gefundenen Tontafeln auf 500 000 bis 600 000. Weil immer wieder etwas gefunden wird, könnte „die Million leicht voll werden“, sagt er.
Und was erzählen uns Keilschrifttexte? „Wir erfahren etwas über Rituale, es geht in den Texten um Mythen, um die Herstellung von Arzneimitteln. Es gibt sogar Geheimdienstdokumente“, erklärt Gerfrid Müller. Manchmal stoßen die Keilschrift-Entzifferer aber auch einfach auf eine Liste, auf der Ausgaben für alltägliche Einkäufe vermerkt sind. Was ja auch ein Licht auf das Leben jener alten Kultur wirft.
Die Keilschrift
Erfunden wurde die Keilschrift von den Sumerern. Später wurde sie unter anderem von Akkadern, Babyloniern, Assyrern, Hethitern und Persern übernommen.
Genutzt wurde die Keilschrift ab etwa 3500 v. C. bis ins erste Jahrhundert n. C. im Vorderen Orient für mehrere Sprachen. Grundelemente sind waagrechte, senkrechte und schräge keilförmige Striche. Sie wurden mit Schilfrohr, Knochen oder Metall in feuchten Ton gedrückt.
Ursprünglich handelte es sich um eine Bilderschrift. Daraus entwickelte sich eine Silbenschrift. Ein Kaufmann der damaligen Zeit musste etwa 120 Zeichen beherrschen.