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Würzburg
Über ein Jahr Corona: Die Tanzszene kämpft ums Überleben
Wut, Verzweiflung, Existenzangst: Ballettschulen und Tänzerinnen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen und vom Publikum nicht mehr wahrgenommen.
Die Tanzszene und die Pandemie: Bianca Janson, Inhaberin des Ballettstudios 'Mainrhythmie', steht einsam vor ihrem Video-Setup, um eine Unterrichtsstunde in Zoom geben.
Foto: Thomas Obermeier | Die Tanzszene und die Pandemie: Bianca Janson, Inhaberin des Ballettstudios "Mainrhythmie", steht einsam vor ihrem Video-Setup, um eine Unterrichtsstunde in Zoom geben.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 08.02.2024 13:58 Uhr

Eine Gesprächsteilnehmerin hat abgesagt. Die Leiterin in der großen Tanzschule in der Region schreibt, sie habe keine Kraft mehr – "nicht für zusätzliche Aktionen, die sowieso nichts bringen". Eine andere ebenso. Und lässt ausrichten, sie finde die dauernde Sorge, ob sie ihr Studio werde halten können, "mega-anstrengend". "Die Tatsache, als nicht systemrelevant eingestuft zu werden, hat sie zu Beginn des ersten Lockdowns sehr getroffen", sagt Lisa Kuttner und spricht damit für eine ganze Branche.

Lisa Kuttner ist Leiterin des Studios "Tanzraum", freischaffende Tänzerin, Choreografin und als Spartenbeauftrage im Dachverband freier Würzburger Kulturträger und Vorsitzende des Vereins Runder Tisch Tanz für viele Tanzschaffende Ansprechpartnerin. Die Stimmung in der Szene beschreibt sie im besten Fall als bedrückt, in der Regel aber eher als verzweifelt bis wütend, zumal die Dinge seit dem ersten Lockdown nur noch schlimmer geworden sind. "Hilfen kommen zu spät oder gar nicht, viele Einrichtungen sind in der Gefahr zu schließen."

Die Ballettschulen mussten erst herausfinden, welche Corona-Regelungen für sie gelten

Kuttner hat zum Zoom-Gespräch eingeladen, damit Vertreterinnen einer in der Pandemie inzwischen fast vergessenen Sparte auch einmal Gehör finden. "Uns gibt es politisch praktisch nicht", sagt Bianca Janson, Inhaberin der Würzburger Ballettschule "Mainrhythmie". "Wir wurden in den ersten Verordnungen nicht genannt und mussten versuchen rauszufinden, was für uns gelten könnte."

Ballettunterricht ist nur per Zoom oder ähnliche Pattformen möglich. Franziska Krestel unterrichtet an der Würzburger Ballettschule Pêcheuse und tanzt selbst – zur Not eben im heimischen Wohnzimmer.
Foto: Krestel | Ballettunterricht ist nur per Zoom oder ähnliche Pattformen möglich. Franziska Krestel unterrichtet an der Würzburger Ballettschule Pêcheuse und tanzt selbst – zur Not eben im heimischen Wohnzimmer.

Franziska Krestel von der Würzburger Ballettschule "Pêcheuse" ergänzt: "Wir haben es im Gesundheitsministerium probiert, da konnte keiner was sagen." Dabei könnten gerade die Ballettschulen sehr gut unter Hygieneauflagen arbeiten: "Jede Menge Platz, um Abstände einzuhalten, permanent desinfizierte Stangen, keine Garderobe – Risiko null."

Für Bianca Janson ist klar, dass es schlicht an der politischen Intention fehlt: "Die Konsumtempel sind offen, Konzertsäle und Theater zu. Wir werden auf leise Art und Weise zum Sterben gebracht." Um die Existenz geht es inzwischen für viele. Etliche Mitglieder zahlen zwar aus Solidarität ihre Beiträge weiter, sagt Lisa Kuttner: "Denen liegt einfach am Herzen, dass es weitergeht." Dennoch müssen allmonatlich hohe Mieten für große Flächen aufgebracht werden. "Ich überlege, ob ich im Sommer ausziehen muss", sagt Bianca Janson.

Vor allem im Kinderbereich brechen die Zahlen ein

Derzeit geht, sieht man vom Verschicken von Lehrvideos ab, nur Unterricht per Zoom oder ähnliche Plattformen. Wenn überhaupt. Vor allem im Kinderbereich brechen deshalb die Zahlen ein. "Alles hängt davon ab, ob die Mütter mitmachen", sagt Janson, die Tausende Euro in entsprechende Ausstattung investiert hat. "Sie können eine Fünfjährige nicht einfach daheim vor die Kamera stellen und sagen: Mach mal!" Hier zeige sich die gleiche Sichtweise wie in der Politik: Eltern, die Ballett – wie die Politik – als Freizeitbeschäftigung sehen, engagieren sich kaum, solche, die es als Bildungsangebot im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung begreifen, hängen sich rein.

Wobei gerade Mütter mit vielen ganz praktischen Fährnissen kämpfen: Wenn sie früher die Kinder für zwei Stunden in der Ballettschule abgeben konnten, hatten sie für diese Zeit auch mal Pause. Jetzt müssen sie die ganze Zeit beim Unterricht dabei sein. "Und wenn sie selbst tanzen, müssen sie sich regelrecht einsperren, um für sich zu sein", sagt Lisa Kuttner.

Tanzperformance mit Lisa Kuttner zur Eröffnung der Aktion 'Achtung! Kunstleerer Raum' im vergangenen Oktober.
Foto: Fabian Gebert | Tanzperformance mit Lisa Kuttner zur Eröffnung der Aktion "Achtung! Kunstleerer Raum" im vergangenen Oktober.

Aber auch für viele Ältere und für die Lehrerinnen ist der Bildschirmunterricht nicht optimal. "Die Schülerinnen sehen nur mein Abbild. Ich kann nichts ohne Worte machen, mit meiner Aura, meiner Energie. Dadurch entwickelt man eine Art Überpräsenz. Das ist extrem anstrengend, nach zwei, drei Streams ist einfach Schluss", sagt Bianca Janson.

Derzeit müssten ohnehin alle viel zu viel auf Bildschirme starren. Lisa Kuttner: "Gerade bei den 15- bis 18-Jährigen heißt es immer wieder, ich kann nicht mehr, ich verstehe die Anweisungen nicht mehr." Wenn man gemeinsam vor Ort ein Stück einstudiere, auf eine Aufführung hinarbeite, entstehe Nähe, Inspiration. Das Live-Publikum wiederum trage allein durch seine Anwesenheit, sein Erleben zu den Stücken bei. "Das alles geht derzeit nicht. Wir sind in Zweidimensionalität gefangen, aber Tanz ist nunmal dreidimensional."

Gerade die Größeren lassen sich einiges einfallen, um dranzubleiben

Dennoch: Gerade die Größeren lassen sich einiges einfallen, um dranzubleiben, berichtet Franziska Krestel. "Da werden Keller hergerichtet oder Wohnzimmer leergeräumt. Väter basteln Stangen, oder man nimmt das Bücherregal." Eine Hauptgruppe bei der Ballettschule "Pêcheuse" seien Studentinnen. "Da gibt es immer schon ein Kommen und Gehen", sagt Krestel. "Aber jetzt kommen keine neuen Schülerinnen mehr nach." Niemand fange in diesen Zeiten per Zoom mit Ballett an. "Außerdem hört man draußen immer nur, dass alles geschlossen sei."

Nach vorne schauen fällt schwer, sagt Lisa Kuttner. Dieses Denken in 14-Tage-Schritten in Erwartung neuer Regelungen. Nun hoffen alle auf Auftrittsmöglichkeiten bei Open-Air-Sommerbühnen. Und dass vielleicht die eine oder andere Performance, etwa im Rahmen der Aktion "Kunstleerer Raum", dem Publikum signalisiert: "Es gibt uns weiterhin!"

Stream für Kurzentschlossene: Mit einem Konzert aus dem spanischen Málaga beginnt am Freitag, 16. April, 20.30 Uhr, das Würzburger Flamencofestival 2021. Mercedes Sebald, Leiterin des Festivals, lädt im Namen der Würzburger Künstlerinitiative Salon 77 zum Live-Stream mit dem Gitarrenduo Antonio Andrade und Javier Leal. Weitere Online-Termine sollen folgen. Eintritt: freiwillige Spende. Zugang unter www.flamencoworlds.com/duo-online-deutsch

 
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