Das Plakat zeigte die Köpfe der fünf Musiker ausgestanzt wie runde Steine. Angekündigt wurde „Die härteste Beat-Band der Welt“. Am 11. September 1965 begann die erste Tournee der Rolling Stones durch die Bundesrepublik Deutsachland – in der Halle Münsterland. Weitere Konzerte folgten in Essen, Hamburg, München und Berlin. Es waren Doppelkonzerte mit dreiteiligem Vorprogramm. Das erste begann jeweils am späten Nachmittag, das zweite war für den Abend terminiert. In Berlin gab es nur einen Auftritt, mit dem bekannten Ausgang: Das Sitzmobiliar der Waldbühne wurde in seine Einzelteile zerlegt.
Was war das für eine Zeit? Bis weit in die 1960er Jahre waren in den Hitlisten ausschließlich deutsche Schlager zu finden: Im Hörfunk lief Tanzmusik, und das Fernsehen steckte in biederen Anfängen. Ab 1964 wandelte sich ganz allmählich das Bild. Die ersten Lieder der Beatles wurden auch in der BRD bekannt, und im Juni 1965 hatten die Rolling Stones auch hier mit „The last Time“ ihren ersten Hit. In den Städten öffneten die ersten Beatschuppen, äußerst misstrauisch beäugt von der Erwachsenenwelt und den Medien.
Ein totales Tohuwabohu
Überall entstanden Beatbands, die versuchten, mit oft äußerst primitivem Equipment ihren großen Vorbildern nachzueifern. Einige Gruppen erlangten sogar eine gewisse Bekanntheit. Internationalen Erfolg indes hatte keine. Vielleicht wurden auch deshalb deutsche Bands für das Vorprogramm der ersten deutschen Stones-Tournee ausgewählt. Unter uns Jugendlichen kursierte die Meinung, dass bei Stones-Konzerten grundsätzlich die Bühne gestürmt wird. Die Rolling Stones selbst, wohl als Teil ihres aufgebauten Renommees als „Bad Boys“, kokettierten mit diesem Umstand, war doch auf der Rückseite der LP „Around and Around“ ein Foto von ihrer ersten USA-Tournee zu sehen – wie Fans die Bühne enterten und in ihrer Verzückung Mick Jagger umklammerten. Auch wusste man, dass bei einem Konzert im holländischen Scheveningen ein totales Tohuwabohu geherrscht hatte.
Das sollte natürlich in der Bundesrepublik nicht passieren! Da man jedoch mit solchen Veranstaltungen keinerlei Erfahrung hatte, wurden Kommunalbehörden, Polizei und Saalordner in Alarmbereitschaft versetzt. Während der Münsteraner Konzerte waren mehrere Dutzend Polizisten in Zivil die ganze Zeit auf der Bühne zugegen, und die ersten zwei Stuhlreihen im Parkett, eine davon zum Publikum hin ausgerichtet, waren ausnahmslos Ordnern vorbehalten, die, adrett gekleidet mit Anzug, Krawatte und einer weißen Armbinde, ununterbrochen die jugendlichen Musikliebhaber beäugten. In den Gängen hatte man alle drei Meter Ordnungspersonal postiert. So wurde mit vorher und nachher nie mehr betriebenem Aufwand jeglicher Versuch der jugendlichen Konzertbesucher im Keim erstickt, sich auch nur ansatzweise ihren Idolen nähern zu können.
Für den Fall, dass es dennoch zum Äußersten kommen sollte, stand hinter der Bühne ein Motorrad-Monstrum mit abgeschnittenem Auspuff und zwei Meter hohem Ofenrohr bereit. Mit diesem Gefährt sollten anstürmende Fans von der Bühne vertrieben werden. Auch hatte man einen Wasserwerfer geordert. Später wurde bekannt, dass sich in der Halle auch die Polizeipräsidenten der Städte befanden, in denen die weiteren Stones-Konzerte stattfinden sollten
Die Veranstaltungsorte waren mit der Durchführung restlos überfordert. Bis dato bestand in bundesdeutschen Stadthallen das Programm im Wesentlichen aus Schlagergrößen wie Caterina Valente und Operettenmelodien. Somit gab es überhaupt keinen Anlass, diese Gastspielorte mit einer leistungsstarken Beschallung auszurüsten. In der Halle Münsterland war unter der Hallendecke in der Mitte eine einzige Lautsprecherbox in Form eines Oktaeders angebracht. Darüber sollte Mick Jagger unter anderem seine Stimme den in völliger Verzückung kreischenden Jugendlichen zu Gehör bringen. Es gab zu dieser Zeit weder ein Mischpult mit Dutzenden Kanälen, noch vieltausendwattstarke Verstärkersysteme mit haushohen Lautsprechertürmen noch Lightshows oder Spots.
Die Gitarrenverstärker von Keith Richard und Brian Jones würden heute jeder Garagenband ein müdes Lächeln entlocken, Charlie Watts versuchte nahezu allein durch Muskelkraft den Schlagzeugrhythmus im weiten Hallenrund zu verbreiten. Das Bühnengeschehen sollte durch vorhandenes Neonlicht und Deckenleuchten ins rechte Licht gesetzt werden.
Das Vorprogramm dauerte jeweils gut 20 Minuten und bestand aus Jimmy and the Rackets („Skinny Minnie“), Didi and the ABC-Boys aus Berlin (mit dem später bekannt gewordenen Musik-Fotografen Dieter Zill) und den Hamburger Rivets, smarte Jungs, die besonders bei den weiblichen Konzertbesuchern gut ankamen. Dann betraten die Stones die Bühne, ohne Anmoderation, auch das gab es damals noch nicht.
Ohrenbetäubender Lärm. Nach einer Minute zeigte der 22-jährige Mick Jagger ins Publikum: „I need you, you, you.“ Erst da wusste man, mit welchem Song sie das Konzert eröffnet hatten: „Everybody needs somebody to love.“ Die Musik ging im frenetischen Geschrei der Fans weiterstgehend unter. Die Stones brachten insgesamt acht Titel – und waren damals schon geschäftstüchtig. Zuvor war eine EP (eine doppelte Single) mit den ersten Live-Aufnahmen der Band erschienen. Mit diesen vier Songs begannen und beendeten sie ihr Konzert („Everybody needs somebody to love“ und „Pain in my Heart“ sowie „I?m moving on“ und „I?m alright“).
Hinzu kamen „Around and around“, „The last Time“, „Satisfaction“ und „Time is on my Side“. Die größte Begeisterung erzeugte „The last Time“. „Satisfaction“ war einer der ersten Songs der Stones, der in USA aufgenommen wurde. Dort veröffentlichte man den Titel schon im Mai. In England kam die Single im Juli in die Läden, in der BRD erst Anfang September. Den Song hatte hier noch kaum jemand gehört. Von daher ist es falsch, wenn immer wieder behauptet wird, „Satisfaction“ wäre der Höhepunkt des Konzertes gewesen. Aber der Titel – Genugtuung, Befriedigung – hatte Symbolgehalt.
Nach 25 Minuten war alles vorbei; nicht enden wollender orkanartiger Trubel. Gut zehn Minuten dauerte es, bis sich ganz allmählich eine Stimme aus dem Off Gehör verschaffen konnte, die immer wieder versuchte zu verkünden: „Die Rolling Stones geben keine Zugabe! Die Rolling Stones geben keine Zugabe . . .“. Später wurde bekannt, dass das der Münsteraner Polizeipräsident persönlich war.
Häme und Spott und sogar Hass
Heute ist es schwer verständlich, mit welcher Häme und welchem Spott und sogar Hass in den Medien über die ersten Stones-Konzerte berichtet wurde. Mit völligem Unverständnis und in Verkennung der unaufhaltsamen Entwicklung der neuen Musik wurden die Grenzen zur Beleidigung häufig überschritten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtete von „erbärmlich einfallsloser Musik“ und von „affenartigen Bewegungen des Sängers“. In einer kurzen TV-Reportage war von „ungewaschenen Höhlenmenschen, die soeben aus der Eiszeit aufgetaucht sind“ und von „Zwiesprache zwischen Mick Jagger und seinen willigen Opfern“ die Rede. Überhaupt war man der Ansicht, dass über diese Art von Musik in einem Jahr niemand mehr reden würde.
Man befürchtete einen moralischen Verfall der Jugend. Doch diese Annahme erwies sich als grundweg falsch. Denn Fotos belegen, dass die Jugendlichen fernab von langen Rockermähnen, Lederjacken und Verwahrlosung, in für heutige Verhältnisse auffallend gepflegter Aufmachung zu den ersten Stones-Konzerten erschienen. Der befürchtete Untergang des Abendlandes blieb aus, zumindest, was seine Verursachung durch die Musik der Rolling Stones betrifft.
Uns Jugendlichen war bewusst, etwas ganz Großes, Neues, bisher nie Dagewesenes und für immer Unvergessliches erlebt zu haben: den Anbruch einer neuen Zeit . . .