Ein stattlicher Herr mit schlohweißem Haar. Er will nur seinen Gehstock mit Silberknauf als Stütze, keinen zusätzlichen Arm. So kommt Tankred Dorst zur Vorfeier seines 90. Geburtstags im Haus der Berliner Festspiele auf die Bühne. Regisseure wie Jürgen Flimm und Dieter Dorn, Klaus Zehelein und Iris Laufenberg, Jossi Wieler und Hans Neuenfels geben dem großen Dramatiker die Ehre. Sie alle haben mit seinen Stücken gearbeitet, manchmal sich daran abgearbeitet.
Der „richtige“ Geburtstag ist jetzt am Samstag (19. Dezember). Dorst verzieht sich mit seiner Frau und langjährigen künstlerischen Gefährtin Ursula Ehler (75) von der neuen Wahlheimat Berlin aufs Land. „Dort werde ich zwei Tage verbringen, und vielleicht schreibe ich ein neues Stück“, sagt er und lächelt verschmitzt in sich hinein.
Mehr als 50 Theaterstücke hat Tankred Dorst in den vergangenen 50 Jahren geschrieben – einer der wichtigsten und produktivsten Autoren des deutschen Gegenwartstheaters, der sich hartnäckig jedem Schubladendenken widersetzt. Es sind unterschiedlichste Themen und Formen – Possen und Parabeln, Märchen und Mythen, Psychostudien und Politgeschichten. Und doch geht es letztlich immer wieder um das Scheitern des Menschen an seinen Utopien. „Das Heillose ist für den Dramatiker segensreich, da es ihn mit Stoff versorgt“, sagte er mal.
Dorsts Meisterwerk ist bis heute das Antikriegsstück „Merlin oder Das wüste Land“, das 1981 am Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere feierte. Die Neuauflage der Artussage mit dem Zauberer und Teufelssohn Merlin ist mit ihren fast 400 Seiten, 97 Szenen und bis zu zehn Stunden Aufführungsdauer eine Herausforderung für jeden ambitionierten Theatermacher. „Ein grandioser Weltuntergangsentwurf wie Wagners ,Ring'“, befand „Die Zeit“.
Weltuntergang – das ist früh Dorsts Lebensthema. Der Vater, ein Fabrikbesitzer aus dem thüringischen Oberlind, stirbt, als der Sohn sechs ist. Mit 17 wird er kurz vor Kriegsende an die Westfront geschickt und gerät für mehrere Jahre in amerikanische Gefangenschaft. Zurück in der Heimat, ist er entwurzelt und orientierungslos, bis während des Studiums die Arbeit an einem Münchner Marionettentheater für Erwachsene die Wende bringt.
Schon bei seinem ersten großen Stück, „Die Kurve“, 1960 in Lübeck uraufgeführt, wird der WDR aufmerksam. Kurz darauf beginnt die langjährige produktive Zusammenarbeit mit Peter Zadek, einem „jungen Genie aus London“, wie der Verlag damals sagt. Werke wie „Toller“, „Eiszeit“ und „Auf dem Chimborazo“ kommen auf die Bühne, später folgen etwa „Korbes“, „Karlos“ und „Herr Paul“. Auch Filme wie „Klaras Mutter“ und „Eisenhans“ entstehen.
„In unseren Dezennien“, sagte Laudator Georg Hensel 1990 bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, „hat kein anderer deutscher Stückeschreiber so viele Tonarten, eine solche Orgelbreite: sentimental, treuherzig, tollpatschig, gefühlvoll, humorvoll, ironisch, sarkastisch, zynisch-ordinär, hundsgemein – und immer taghell“. Seit Anfang der 70er Jahre ist die gelernte Bildhauerin und Bibliothekarin Ursula Ehler das Alter Ego von Dorst – und bei den meisten Werken auch seine Co-Autorin. „Wenn man Euch zusammen sieht, könnte man meinen, ein Stein tanzt“, sagte der Regisseur und Wegbegleiter Hans Neuenfels kürzlich.
Erst vor drei Jahren ist das Paar in die Bundeshauptstadt umgezogen, nach mehr als vier Jahrzehnten im eher beschaulichen München. „Ich wollte nochmal was Neues machen“, so Dorst, der auch sonst nicht vor Experimenten zurückschreckt. Als damals schon 80-Jähriger gab er 2006 mit einer Neuinszenierung von Wagners „Ring“ in Bayreuth sein Debüt als Opernregisseur – allerdings begleitet von Buh-Rufen.
Sein jüngstes und bisher unveröffentlichtes Stück, „Das Blau an der Wand“, soll voraussichtlich unter der neuen Intendanz von Wilfried Schulz am Düsseldorfer Schauspielhaus auf die Bühne kommen, wie er verrät. Ob ihm das Alter Angst macht? „Nein“, sagt er. „Man weiß ja, dass das Leben endlich ist. Und der Körper gibt einem schon rechtzeitig die Signale.“