Glauben Sie allen Ernstes, Sie seien in der Lage, bewusste Entscheidungen zu treffen? Die womöglich auf rationalen Erwägungen beruhen? Vergessen Sie's! Die moderne Hirnforschung hat herausgefunden, dass eine gefühlt bewusste Entscheidung schon in den Tiefen des Gehirns vorweggenommen wurde. Die vermeintlich ach so rationale Entscheidung kommt womöglich aus dem Unbewussten. Was sie dort auslöst – man weiß es nicht. Zufall? Göttliche Eingebung? Ist alles vorbestimmt – und der freie Wille nur Einbildung? Spekulationen gibt es mehr als es Psychologen und Esoterikjünger gibt. Vernunft scheint bei vielen Entscheidungen jedenfalls nicht im Spiel sein. Sonst sähe die Geschichte der Menschheit anders aus. Sonst hätten alle genügend Nahrung und ein würdiges Leben. Genug Geld ist immer nur für Kriege da und für Waffen.
„Ich habe weder Angst vor Hexen, noch vor Gespenstern, Riesen, Bösewichten – ich fürchte keine Kreatur außer einer: den Menschen.“ Francisco de Goya wusste nichts von moderner Hirnforschung. Doch der Spanier (1746 bis 1828) blickte sich in seiner Wirklichkeit um und sah: Blut und Zerstörung, Menschen, die Mitmenschen morden, Menschen, die Mitmenschen foltern. Er brachte, was er sah, gnadenlos zu Papier. Seine Radierungen „Die Schrecken des Krieges“ gehören zum Schonungslosesten, was die Kunstgeschichte zu diesem Thema zu bieten hat (die Serie ist im Frankfurter Städel in der Ausstellung „Schwarze Romantik“ zu sehen – siehe Kasten). Goyas Bilder fußen auf wirklichen Vorgängen. Gräuel aus den Napoleonischen Kriegen werden albtraumhaft übersteigert. Hier herrschen die Triebe. Bewusstes Denken, Menschlichkeit: Fehlanzeige.
Goya ist nicht der Einzige, der das Vertrauen in die Vernunftbestimmtheit menschlichen Handelns verloren hat. Die Französische Revolution war als neues Zeitalter gefeiert worden, als Triumph des Vernünftigen. Doch sie zog Terror und Tod nach sich, was das Vertrauen in aufgeklärtes Denken erschütterte. Und weil ein Maler nicht das malen muss, was er an der Oberfläche sieht, sondern dahinter blicken kann, widmeten sich immer mehr Künstler dem Unbewussten. Sie beschworen albtraumhafte Szenen herauf, um sichtbar zu machen, was tief in uns steckt – und womöglich die Geschicke der Welt bestimmt.
Die Romantiker, ebenso wie ihre Erben, die Symbolisten und Surrealisten, dem Blick nach innen zugeneigt, entdeckten die dunklen Seiten der Seele. Anregungen fanden die Künstler in Literatur, Mythos und Märchen: Johann Heinrich Füssli malte die drei Hexen aus Shakespeares „Macbeth“. Der Irrsinn flackert im Gesicht von Carl Blechens Pater Medardus, jenes Mönches, den E. T. A. Hoffmann durch eine anscheinend irrsinnige Welt jagt. Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen starrt das abgeschlagene Haupt der mythischen Medusa von Arnold Böcklins Bild auf den Betrachter.
Tod und Teufel – Symbole für die dunklen Seiten des Lebens – wurden zu Hauptdarstellern. Selbst das Idyll ist beängstigend: Böcklins „Villa am Meer“ wird durch diffuses Licht und den Sturm, der die Bäume biegt, zum Geisterhaus. Und Caspar David Friedrich zeigte, wie unheimlich Stille sein kann. Die düsteren Bilder, scheinbar nur der Fantasie der Maler entsprungen, verraten mehr über die Wirklichkeit, als es fotografisch getreues Abmalen von Äußerlichkeiten je vermöchte.
Die Welt ist abgründig. Verwirrend. In Unordnung gebracht von der Macht des Unbewussten – bei der auch der Sexualtrieb eine Rolle spielt. In vielen Gemälden der Schwarzen Romantik ist Erotik zumindest unterschwellig präsent. Das sagt uns: Auch Homo sapiens, der angeblich wissende Mensch, ist ein triebbestimmtes Wesen.
Die Ausstellung
Erstmals widmet sich in Deutschland eine Ausstellung der „Schwarzen Romantik“. Zu sehen sind im Frankfurter Städel über 200 Arbeiten zum Thema (Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Fotografien, Filme). Die Schau vereint Werke von Goya, Füssli, Géricault, Caspar David Friedrich, Dalí und vielen anderen. Sie dauert bis zum 20. Januar.
Das Städel ist auch wegen seiner Dauerausstellung einen Besuch wert. Der Bau am Frankfurter Museumsufer wurde in diesem Jahr um 3000 Quadratmeter erweitert. Zu sehen ist Kunst vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Die Präsentation der Werke in den neuen Räumen ist spektakulär.
Öffnungszeiten: Dienstag, Freitag bis Sonntag 10–18, Mittwoch, Donnerstag 10–21 Uhr.
Das Buch zur Ausstellung: Schwarze Romantik (Hatje Cantz, 304 Seiten, 360 Abbildungen, 24 x 28,7 cm, 45 Euro). Der reich illustrierte Band untersucht die Bezüge zwischen romantischen, symbolistischen und surrealistischen Strömungen. Den originalen Audio-Guide der Ausstellung gibt es, gesprochen von Hanna Schygulla, mit einem 48-Seiten-Buch in der Reihe „Kunst zum Hören“ (Hatje Cantz, 30 Abb., 22,6 x 22,7 cm, 16,80 Euro).