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WÜRZBURG
SAID und de Kraft der Psalmen
Gebete als Weltliteratur: Mögen sie auch für den Gottesdienst gedacht sein, die alttestamentliche Lyrik beeinflusst und beeindruckt Schriftsteller bis heute. Sogar solche, die gar nicht an Gott glauben.
Von unserem Redaktionsmitglied Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 22.12.2015 15:10 Uhr

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Der Schrei des todgeweihten Mannes am Kreuz ist mehr als das spontane Sich-Aufbäumen gegen das Unausweichliche. Es ist auch ein Sich-Hingeben an die Tradition, die Suche nach Trost in einer jahrhundertealten Klage. Die Evangelisten Markus und Matthäus legen Jesus als letzte Worte den ersten Vers von Psalm 22 in den Mund – und liefern damit eines der ältesten literarischen Zeugnisse von der Kraft, die der alten Lied- und Gebetsform zugeschrieben wird.

Die Kraft der Psalmen wirkt über die Jahrtausende hinweg bis in unsere Gegenwart. Ihre Form ist zeitlos. So zeitlos, dass sich auch Inhalte aus dem 21. Jahrhundert in sie gießen lassen. Geschrieben zum größten Teil im späten 6. Jahrhundert vor Christus, sind sie eines der erstaunlichsten Phänomene der Geistesgeschichte. Mögen sie vom Ursprung her auch religiös sein – geachtet, nachgeahmt und für die eigenen Zwecke genutzt werden sie auch von Nichtreligiösen. In Palästina, also im Orient, entstanden, doch auch im Westen aufgesogen, verbinden sie bis heute zwei Kulturkreise – und zwei Religionen. „Sie sind wichtiger Bestandteil des jüdischen und des christlichen Gottesdienstes“, sagt Erich Garhammer, Professor für Pastoraltheologie an der Würzburger Universität.

Und noch mehr: „Sie sind auch Weltliteratur“, so Garhammer. Der Psalter, wie das alttestamentliche Buch mit den 150 meist kurzen Texten genannt wird, zog immer wieder Dichter in seinen Bann. Sie orientierten sich an der Grundform, modifizierten, verfremdeten, ironisierten sie. Bert Brecht schrieb an die 20 Gedichte, die er als Psalmen bezeichnete. Paul Celan eliminiert in seinem „Psalm“ Gott („Gelobt seist du, Niemand“). Arnold Stadler durchsetzt seine Psalm-Nachdichtungen mit eigenen Erfahrungen und alltäglichen Beobachtungen. Im Psalm 1 des Büchner-Preisträgers findet sogar der Stammtisch Platz – als Ort, an dem Vorurteile kolportiert werden, und als moderner Kommentar zu dem Wort „Spötter“, das im Original steht.

Der Deutsch-Iraner SAID dichtet: „denn hier auf dem globalen Markt / versteigert man jeden / der schweigt.“ Eine Anklage gegen den Turbokapitalismus. Eine Analyse des Zustandes der westlichen Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, komprimiert in drei Zeilen eines Psalms. Die uralte Form der Poesie tauge eben auch als Vehikel für aktuelle Zeitkritik, sagt Garhammer, der tief im Herzen auch Germanist ist, was seinem Zweit-studium entspricht.

SAID, der am 2. Mai nach Würzburg kommt (siehe Kasten), lebt seit 1965 in Deutschland. Er schreibt in Deutsch. Die Psalmenform ist für ihn eine Möglichkeit, die eigene Lebensgeschichte zu verarbeiten, sein Verhältnis zur Religion zu hinterfragen, sich in den Texten an Gott heranzutasten, an den zu glauben er eigentlich verlernt hat. Geboren 1947 in Teheran, wuchs SAID im islamischen geprägten Umfeld auf. „als jugendlicher glaubte ich mit ganzem herzen an die gerechtigkeit auf erden“, schrieb er 2010 in seinen west-östlichen Betrachtungen „Das Niemandsland ist unseres“.

Doch „schließlich siegte die islamische revolution im namen eines gottes; nahe freunde werden auf der flucht erschossen, exekutiert“. Und plötzlich „sieht sich der bürger gezwungen, seine religiosität vor den gläubigen zu schützen und vor deren republik“. Den ideologisierten Glauben erträgt er nicht. SAID wird zum Suchenden nach Gott, nach Sinn, wird zum Pilger auch zwischen den Kulturen.

Traditionell sind Psalmen quasi Vorlagen „für verschiedene Situationen des menschlichen Lebens“, erklärt Professor Garhammer. Sie haben, zum Beispiel, Worte für den, der vor falschen Anklägern gerettet werden will, den, der über eine Krankheit klagt oder über Kriegsnot. „Der Psalm übergibt die Gefühle des Menschen an Gott“, sagt Garhammer. Der Mensch kann sich von seinen Sorgen und Nöten befreien. Denn für die sorgt Gott. Vorausgesetzt, man glaubt an ihn.

Doch SAID ist Gott-Sucher. Wem also soll er seine Sorgen übertragen? Wen soll er rühmen? Er dreht den Spieß um: „herr / rühme mich / denn ich habe viel ausgehalten / ohne ein Zeichen von dir.“

Zweifel ist durchaus im Sinne der Psalmen. Schon die Psalmen in der Bibel sind literaturtypisch vielschichtig und zeigen, dass Glauben nicht immer nur Glück und Harmonie bedeutet. „Hier finden auch Aggression und Zweifel Ausdruck“, erklärt Erich Garhammer. Zweifel sei nicht zwangsweise Ausdruck von Gottlosigkeit, wie das in der christlichen Tradition gerne gesehen werde, so der Theologe: „Im Judentum heißt es, im Zweifel sei man Gott am nächsten.“

Erich Garhammer hat zum Thema Poesie und Literatur ein Buch geschrieben: „Zweifel im Dienst der Hoffnung“ ist bei echter erschienen (317 Seiten, 24,80 Euro).

SAID liest am 2.Mai, 20 Uhr in der Würzburger Stadtbücherei (Tel. 0931/373438). Arnold Stadler kommt am 16. Mai, 20 Uhr, ins Würzburger Jüdische Kulturzentrum "Shalom Europa".

 
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