Manchmal ist die Wirklichkeit so schrecklich, dass man sie nur über den Umweg der Fiktion erträgt. So macht es zumindest der zwölfjährige Bobby Nusku in dem Roman „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“.
Seine Mutter ist weg, sein Vater und dessen neue Freundin interessieren sich nicht für ihn, und in der Schule wird er schikaniert. Als Bobby endlich in Sunny einen Freund findet, wird der für ihn zum Terminator, der ihn vor allem Bösen beschützen will. Doch dann zieht Sunny weg, und Bobby ist wieder allein – bis er seine Nachbarin Val und deren behinderte Tochter Rosa kennenlernt.
Die beiden werden schnell zu Bobbys Ersatzfamilie. Sie essen zusammen, spielen, reden und lesen Bücher aus dem Bücherbus, einer fahrenden Bibliothek, für die Val als Putzfrau arbeitet. In Bobbys Welt ist Rosa eine Prinzessin, Val eine Königin und der Bücherbus ein nicht feuerspeiender Drache. Doch Bobbys Vater, der Unhold, stört diese Idylle. Er verprügelt seinen Sohn und wirft Val vor, Bobby sexuell zu missbrauchen. Daraufhin schnappt sich Val den Bücherbus und macht sich mit Bobby und Rosa auf eine abenteuerliche Reise durch Großbritannien.
Während im ganzen Land fieberhaft nach der vermeintlichen Kinderentführerin gefahndet wird, erleben Bobby, Rosa und Val die beste Zeit ihrer Lebens. Sie treffen einen Höhlenmenschen, besuchen einen leeren Privatzoo, lesen Unmengen von Büchern und haben endlich das Gefühl, eine richtige Familie zu sein. Doch hinter all der Poesie und den Fantasiefiguren lauert die grausame Realität.
Der zweite Roman des 33-jährigen Schriftstellern David Whitehouse ist ein fantastischer Road-Trip durch die Welt der Literatur. Das Tragische versteckt sich hinter dem Schönen, zeigt sich immer wieder mir erschreckender Deutlichkeit und wird durch die überbordende Fantasie und den unbedingten Lebenswillen eines zwölfjährigen Jungen wieder in die Schranken gewiesen. Ein ungewöhnlicher Roman: tragisch, komisch und herzergreifend.
David Whitehouse: Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek (Tropen-Verlag, 320 Seiten, 19,95 Euro)