Tausende tun es täglich: Sie reisen durch die Zeit. Schon ein Interkontinentalflug mit einem schnellen Passagierjet transportiert den Reisenden in die Zukunft. Denn wenn er ankommt, ist für die, die auf der Erde geblieben sind, die Zeit schneller vergangen als für ihn. Das ist kein Science-Fiction-Hirngespinst, sondern nachgewiesen: 1971 flogen zwei US-Wissenschaftler mit Atom-Uhren im Gepäck um die Welt. Beim Vergleich mit einer stationären Uhr stellten sie nach der Rückkehr fest, dass die Uhren auf der Erde eine spätere Zeit anzeigten als die aus dem Flugzeug. Freilich spielt sich dieser Effekt im Milliardstelsekundenbereich ab. Ein Mensch spürt ihn nicht.
Doch der Zeitreiseeffekt, er existiert. Er folgt aus Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie (1905). Je schneller man sich bewegt, desto langsamer vergeht die Zeit im Vergleich zu einem ruhenden Beobachter. Zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit, also runde 30 000 Kilometer pro Sekunde, sollten es aber schon sein, damit der Effekt spürbar wird. Dieses Tempo zu erreichen, ist allerdings wirklich Science-Fiction.
Kein Weg zurück
Einmal in der Zukunft angelangt, kommt der Reisende nie mehr zurück in seine Zeit. Denn ein Trip in die Vergangenheit ist nach derzeitigem Stand der Forschung nicht machbar. Die wissenschaftliche Begründung dafür ist so kompliziert, wie es das Universum mit seiner Raumzeit-Struktur ist. Der Astrophysiker Stephen Hawking hat die Unmöglichkeit der Reise in die Vergangenheit schlicht und logisch so begründet: Wenn der Trip zurück irgendwann erfunden würde, müsste man doch in unserer Gegenwart auf Vergangenheitstouristen aus der Zukunft treffen . . . Den Schriftsteller muss all das nicht kümmern. Er kann sein eigenes Universum stricken. Er kann frei mit der Physik umgehen und seine Helden beliebig in der Zeit vor- und zurückschicken.
Das Thema fasziniert spätestens, seit H. G Wells 1895 seine „Zeitmaschine“ startete. Wells ist vom technischen Aspekt fasziniert – doch nutzt der Brite (1866-1946) die Zeitreise vor allem, um Kritik an der Gesellschaft zu üben, ganz in der jahrhundertealten Tradition des utopischen Romans. Wells schickt seinen Helden in die Zukunft, damit der von Menschen erzählen kann, die das Lesen verlernt, das Forschen vergessen haben und von bösartigen „Morlocks“ geknechtet werden.
Parallele Universen
Jede Menge Technik braucht auch Michael Crichton für den Ausflug ins Mittelalter. Crichton nutzt in „Timeline“ (1999) die zweite große Welterklärungstheorie (die sich in der Wirklichkeit derzeit nicht mit der Relativitätstheorie vereinbaren lässt): Er nimmt Quantenphysik her, um seine Geschichte zu fundieren. Er geht von der Vielwelten- oder Multiversum-Hypothese aus. Die besagt, dass es eine Unzahl parallel existierender Universen gibt. Seine Wissenschaftler, die das Jahr 1357 besuchen, reisen eigentlich nicht in der Zeit. Sie reisen in ein paralleles Universum.
Die Vielwelten-Hypothese ist umstritten. Für den Schriftsteller löst sie zum Beispiel das Problem der Paradoxien, die bei Reisen in die Vergangenheit auftreten können, a la: Wenn ein Zeitreisender in der Vergangenheit seinen Vater noch im Kindesalter tötet, kann er nicht geboren worden sein. Wenn er aber nicht geboren wurde – wie kann er dann seinen Vater töten? Führt der Ausflug in ein paralleles Universum, bleiben Veränderungen, die der Zeitreisende vornimmt, in dem Universum, aus dem er kommt, folgenlos.
Mit unabsehbaren Wirkungen von Eingriffen in die Geschichte spielt Stephen Kings „Der Anschlag“ (2011). Durch einen Zeittunnel, der wie ein Naturphänomen einfach da ist, lässt sich der 9. September 1958 erreichen. Der Lehrer Jake Epping tunnelt zurück, um das Attentat auf Kennedy zu verhindern . . .
„Einer Maschine traut man, technikgläubig, wie wir Menschen des technischen Zeitalters nun mal sind, fast alles zu“, schreibt Wolfgang Jeschke im Vorwort zu Jack Finneys „Von Zeit zu Zeit“. An Finneys Zeitreisegeschichte fasziniert den Guru der Science-Fiction-Szene, selbst Autor diverser Zeitreisegeschichten, dass Finney eben keine Maschine braucht: Das Universum „funktioniert nicht so, wie wir uns das immer vorgestellt haben“, erfährt Finneys Zeitreisender Sy Morley vom Leiter des Projekts. Der bemüht Einstein'sche Theorien: „Er sagte, wir seien wie Menschen in einem Boot ohne Ruder, das auf einem mäandernden Fluss dahintreibt. Um uns herum sehen wir nur die Gegenwart. Die Vergangenheit hinter uns, hinter den Kurven und Biegungen, können wir nicht mehr sehen. Aber sie ist da.“
Um an diese Biegungen – also in die Vergangenheit des Zeitstroms – zu gelangen, muss Sy eine spezielle Art der Selbsthypnose lernen. Und: Er wird in eine Wohnung gebracht, in der alles genau so ist wie am Ende des 19. Jahrhunderts. Umgebung und mentales Training bringen Sy Morley tatsächlich in die Vergangenheit.
Zeitreisegeschichten sind auch Zeitgeistgeschichten. „Von Zeit zu Zeit“ entstand 1970. Im Windschatten der Flowerpower-Zeit war man der Technik gegenüber eher misstrauisch, interessierte sich für Esoterik, übte sich in Meditation.
Religion und Esoterik
Jüngstes Mitglied im Zirkel der Zeitreise-Autoren ist Martin Suter. Auch er braucht in seinem soeben erschienenen Roman „Die Zeit, die Zeit“ keine Maschine. Was zum Teil auch Ausfluss des aktuellen Zeitgeistes ist. Unsere Epoche mit ihren Umwelt- und Klimaproblemen glaubt kaum mehr, dass Maschinen die Lösung für alles sein können. Religion, Spiritualität, auch Esoterik, haben mehr Gewicht als noch vor einem Jahrzehnt.
Martin Suter hat die Zeit komplett abgeschafft: „Die Zeit vergeht nicht, alles andere vergeht. Die Natur. Die Materie. Die Menschheit. Aber die Zeit nicht. Die Zeit gibt es nicht“, lässt er eine seiner Figuren sagen. Damit macht sich der Schweizer frei von den Zwängen physikalischer Theorien. Weil es keine Zeit, sondern nur Veränderungen gebe, müsse man die nur rückgängig machen, um sich in eine frühere Situation zu versetzen, so die These. Also lässt Suter in seinem Roman eine halbe Straße so wieder herrichten, wie sie vor 20 Jahren ausgesehen hat.
Martin Suter breitet seine Theorie derart schlüssig aus, dass nicht nur der Leser an der Existenz der Zeit zu zweifeln beginnt. Der Autor entschuldigt sich im Nachwort selbst bei Frau und Tochter für „Phasen von abhandengekommenem Zeitgefühl“ während der Arbeit an dem Buch . . .
Zeitreise-Buchtipps
Stephen Hawking: „Eine kurze Geschichte der Zeit“. Kompakte und unterhaltsame Zusammenfassung physikalischer und kosmologischer Grundlagen (Rowohlt, 238 Seiten; 19,90 Euro).
Mark Twain: „Ein Yankee aus Connecticut an König Artus' Hof“ (1889). Die wohl älteste Zeitreisegeschichte. Ein Schlag auf den Kopf bringt einen Mann aus dem 19. Jahrhundert ins Mittelalter (Diogenes, 400 Seiten; 10.90 Euro).
H. G. Wells: „Die Zeitmaschine“. Der Klassiker schlechthin (dtv, 160 Seiten; 7,90 Euro).
Jack Finney: „Zeitspuren“. Der Sammelband enthält den Roman „Von Zeit zu Zeit“ (1970) und dessen Fortsetzung „Im Strom der Zeit“ (1995). Genau recherchierte Details aus New York an der Wende zum 20. Jahrhundert, mit historischen Fotos und Zeichnungen (Heyne, 893 Seiten; 10,95 Euro).
Michael Crichton: „Timeline“. Spannende Geschichte mit viel Action zwischen authentisch wirkendem Mittelalter und den Praktiken eines modernen Konzerns (Goldmann, 640 Seiten; 11 Euro).
Stephen King: „Der Anschlag“. Starke Was-wäre-wenn-Geschichte mit plastischer Schilderung der 1950er Jahre. Auch vielschichtige Zustandsbeschreibung der USA. Fesselnd bis zur letzten Seite (Heyne, 1056 Seiten; 26,99 Euro).
Martin Suter: „Die Zeit, die Zeit“. Intelligent, nicht ohne Ironie, nicht immer logisch und mit kleinen Seitenhieben auf die Moderne geschrieben. Mehr als eine Zeitreisegeschichte. Auch ungewöhnlicher Krimi und Psychogramm zweier Männer, die ihre Frauen verloren haben (Diogenes, 296 Seiten; 21,90 Euro). Text: hele