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FRANKFURT
Reich-Ranicki war ein Entertainer in Sachen Literatur
Ein Freund deutlicher Worte: Marcel Reich-Ranicki bei einer Diskussion im Jahr 2000.
Foto: dpa | Ein Freund deutlicher Worte: Marcel Reich-Ranicki bei einer Diskussion im Jahr 2000.
Redaktion
 |  aktualisiert: 19.10.2020 09:35 Uhr

(dpa/kna/hele) Bei Büchern gab es für Marcel Reich-Ranicki wenig Kompromisse: Sie wurden entweder zerrissen oder über den grünen Klee gelobt. Deutschlands berühmtester Literaturkritiker war geachtet und gefürchtet zugleich. Jetzt ist seine Stimme für immer verstummt. „MRR“, der 1938 in Berlin als Jude nicht studieren durfte und später zahlreiche Ehrendoktortitel erhielt, starb am Mittwoch im Alter von 93 Jahren in Frankfurt. Im März dieses Jahres hatte er seine Krebserkrankung öffentlich gemacht.

Auch im hohen Alter war er noch eine zentrale Instanz der Literaturszene. Bis zuletzt hatte er eine Kolumne in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. „MRR“ war nicht nur viele Jahrzehnte der unangefochtene deutsche Literaturpapst, er war auch ein „begnadeter Entertainer“, wie ihn Thomas Gottschalk an seinem 90. Geburtstag bewundernd nannte. In Erinnerung bleiben wird auch Reich-Ranickis Fernsehauftritt vom 11. Oktober 2008, als er vor laufender Kamera die Annahme des Deutschen Fernsehpreises ablehnte.

Eklat beim Fernsehpreis

Nach dem „Blödsinn, den wir hier zu sehen bekommen haben“, könne er die Auszeichnung nicht annehmen. Auch die sechs Tage später im ZDF ausgestrahlte Sendung, in der er mit Thomas Gottschalk über das Niveau des Fernsehens diskutierte, offenbarte, wie fremd dem Thomas-Mann-Verehrer dieses Medium schien.

Dabei waren es seine TV-Auftritte im „Literarischen Quartett“, die dafür sorgten, dass sein markantes Äußeres und seine oft parodierte Art zu sprechen auch denen geläufig ist, die kaum eines der von ihm besprochenen Bücher gelesen haben. Wie kein anderer Intellektueller schaffte er es, das spröde Medium Buch populär zu machen. Das „Literarische Quartett“ im ZDF, das Reich-Ranicki fast 14 Jahre lang moderierte, war für Millionen Menschen immer auch eine große Unterhaltungsshow.

Im August 2006 erklärte Reich-Ranicki seinen endgültigen Abschied vom „Quartett“. Ein halbes Jahr zuvor war er nach einer Sendung zum 150. Todestag von Heinrich Heine mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus gekommen. Seitdem galt er als gesundheitlich angeschlagen. Im April 2011 starb seine Frau Teofila („Tosia“) im Alter von 91 Jahren. Mit ihr war er einst aus dem Warschauer Ghetto geflüchtet. Altwerden sei fürchterlich, hatte er zuletzt mehrfach in Interviews schonungslos eingeräumt. Der Tod sei sinnlos, er müsse täglich daran denken, sagte der Skeptiker, der nicht an religiöse Heilsversprechen wie an ein Leben nach dem Tod glaubte.

Sein Urteil war oft hart, gelegentlich auch unfair. Verquaste Floskeln waren nicht sein Ding. „Die Klarheit ist die Höflichkeit des Kritikers, die Deutlichkeit seine Pflicht und Aufgabe“, lautete sein Credo. Grausamkeit lasse sich dabei „leider nicht immer ausschließen“, räumte er ein. Das bekamen unzählige Autoren zu spüren – sogar Deutschlands Großschriftsteller Günter Grass. Dessen Roman „Ein weites Feld“ bescheinigte er 1995 im „Literarischen Quartett“ und in einer „Spiegel“-Titelstory, das Buch sei „wertlose Prosa, langweilig von der ersten bis zur letzten Zeile, unlesbar!“ Der gekränkte Literatur-Nobelpreisträger warf dem Kritiker Größenwahn vor – auch wenn andere Literaturkritiker sich „MRR“ anschlossen. Erst 2002 kam es zu einer Annäherung. Ein Gedicht von Grass, in dem dieser Anfang 2012 Israel vor einem atomaren Erstschlag gegen den Iran warnte und den jüdischen Staat zur Bedrohung für den Weltfrieden erklärte, bezeichnete Reich-Ranicki aber als „ekelhaft“.

Auch mit Martin Walser verband ihn eine jahrelange Fehde. Die gipfelte 2002 in Walsers Buch „Tod eines Kritikers“, das wegen Antisemitismusvorwürfen beinahe nicht gedruckt worden wäre. Er und seine Frau seien von dem Buch „tief getroffen“, schrieb Reich-Ranicki bitter.

Im Warschauer Ghetto

Angesichts seiner Vita, die er 1999 in „Mein Leben“ beschrieb, ist das verständlich: Nach der Geburt in Polen siedelte der junge Marcel mit seiner jüdischen Familie nach Berlin um. Die Nazis wiesen ihn 1938 nach dem Abitur nach Polen aus. Aus dem Warschauer Ghetto floh er 1943 mit seiner Frau, die er dort kennengelernt hatte. Das Paar überlebte in Verstecken. Die Eltern der beiden wurden Opfer des Holocaust. In seinem letzten großen öffentlichen Auftritt schilderte „MRR“ im Bundestag am 27. Januar 2012 – dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz – in bewegenden Worten, wie im Juli 1942 die Deportation der Warschauer Juden in die Vernichtungslager begann.

Reich-Ranicki war 1949 über die Arbeit in Polens kommunistischem Geheimdienst und im diplomatischen Dienst nach Warschau zurückgekehrt. 1950 wurde er aus der KP wegen „ideologischer Fremdheit“ ausgeschlossen. Schon lange ein Liebhaber deutscher Literatur, begann er als Lektor und freier Schriftsteller zu arbeiten. 1958 kam er für immer nach Deutschland.

 
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