Rafael Payare charismatisch zu nennen, wäre eine grobe Untertreibung. Der Mann ist eine Art Zauberer. Muss er wohl sein. Wie sonst könnte er eine vollkommen unerhörte Version einer so bekannten Sinfonie präsentieren? Brahms' Vierte, als sei sie nach langer Verschollenheit gerade erst wiederentdeckt worden – frisch, ungestüm, sinnlich und doch bis ins kleinste Detail durchdacht und kontrolliert. Wobei Kontrolle möglicherweise nicht das richtige Wort ist.
Der Venezolaner Rafael Payare, Jahrgang 1980, Chefdirigent des Ulster Orchestra in Belfast, aber längst weltweit gefragt, Ehemann der Weltklasse-Cellistin Alisa Weilerstein, ist am Samstag beim Kissinger Sommer für John Eliot Gardiner eingesprungen. Die „Barbier“-Ouvertüre eingangs beim „Münchner Galakonzert“ mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Regentenbau ist vielversprechend – sofort ist klar, dass da einer steht, der genau weiß, wie er es haben will, der dies vor allem aber auch vermitteln kann.
Payare nur dirigieren zu sehen, wäre schon faszinierend. Zu erleben, dass diese ebenso virtuosen wie suggestiven Gesten, die immer aus dem ganzen Körper kommen, zu immer wieder überraschendem Klang werden, ist überwältigend. Mit Piotr Anderszewski, der an diesem Abend Mozarts G-Dur-Klavierkonzert KV 453 spielt, begegnet Payare übrigens einem Berufskollegen in Sachen Zauberei. Anderszewski, der Nachdenkliche, der Eigenwillige unter den großen Pianisten, gebietet über ähnliche Kräfte.
Sein Anschlag ist unendlich differenziert, immer aber dem ganz großen Bogen verpflichtet. Manche Momente wirken, als betrachte Anderszewski das Werk aus großer Höhe. Das lässt schon den Kopfsatz ein wenig entrückt wirken, das äußerste Pianissimo im Andante allerdings offenbart die ganze Tiefe seiner Gedanken. Dann im Allegretto schnell noch gezeigt, dass ihm auch prickelnd pointierte Triolen ein Leichtes sind, und der Auftritt ist perfekt.
Einer, der Energien freisetzt
Das Ereignis aber ist die Sinfonie. Rafael Payare hat die Gabe, gleichzeitig den Augenblick und das Werk als Ganzes hören zu können. Nur so erklärt sich, warum jeder Satz sozusagen rückwirkend seine ganz eigene Logik offenbart. Die unvermutet kraftvolle Schlusssteigerung des Kopfsatzes, das unendlich tröstliche Andante – Payare ist Analytiker und Instinktmensch gleichermaßen, er arbeitet sich nicht an der Musik ab, er setzt Energien frei. Die BR-Sinfoniker danken es ihm mit fast fiebrig beseeltem Spiel und einem Klangwunder, das sich durch alle Instrumentengruppen zieht.