Wäre die Geschichte vom „Slumdog Millionär“ erzählt worden ohne die Europäische Union? Jene vom ehemaligen Straßenjungen aus Mumbai, der durch eine Quizshow reich und durch die Liebe glücklich wurde? Und hätte man ohne die EU mehr erfahren vom stotternden König George VI., der die Vorlage bildete für „The King's Speech“? Die erfolgreichen Filme profitierten in ihrer Entstehung allesamt von Geldern aus Brüssel, möglicherweise würden die Skripte ohne Zuschüsse vom Kontinent noch immer in der Schublade liegen.
Es kommt daher wenig überraschend, dass sich der überragende Teil der Kulturszene im Vereinigten Königreich für den Verbleib in der EU ausspricht. Vor dem Referendum am 23. Juni, bei dem die Briten über ihre Mitgliedschaft in der Gemeinschaft abstimmen dürfen, haben fast 300 Kulturschaffende einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie den Volksentscheid als „größte demokratische Entscheidung unserer Zeit“ bezeichnen.
„Sherlock Holmes“ ist dagegen
Die Liste ist nicht nur lang, sondern vor allem prominent besetzt: Schauspieler wie „Sherlock Holmes“ Benedict Cumberbatch, Keira Knightley, Jude Law, Bill Nighy, John Hurt, Kristin Scott Thomas oder Patrick Stewart (Ex-Enterprise-Kapitän) sind genauso vertreten wie die Regisseure Steve McQueen, Mike Leigh und Danny Boyle. „Lasst uns nicht zu einem Außenseiter werden, der von den Kulissen aus herüber ruft“, appellieren die Unterzeichner, zu denen auch Schriftsteller wie John le Carré und Ian McEwan, die Lyrikerin Carol Ann Duffy, Architekten wie David Chipperfield und John Pawson sowie die legendäre Modedesignerin Vivienne Westwood gehören.
„Der Traum ist tot“
Aus der Kunstszene schlossen sich unter anderem Anish Kapoor und Jay Jopling an. „Von der kleinsten Galerie bis zum größten Blockbuster, viele von uns haben an Projekten gearbeitet, die niemals in die Tat umgesetzt worden wären ohne EU-Förderung oder internationale Zusammenarbeit“, heißt es in dem Schreiben. Großbritannien sei nicht nur stärker in Europa, sondern fantasievoller und ideenreicher. „Vom Bard zu Bowie, britische Kreativität inspiriert und beeinflusst den Rest der Welt“, verweisen die Vertreter aus der Film-, Kunst- und Musikszene auf William Shakespeare und David Bowie.
Der Erfolg würde erheblich geschwächt werden, „wenn wir weglaufen“.
Doch das sehen nicht alle so. Lord Michael Dobbs, konservativer Politiker und Autor des Romans „House of Cards“, findet: „Unsere Kreativindustrie boomt wegen des Talents, das in Großbritanniens DNA steckt.“ Nicht wegen der EU. Im antiken Griechenland habe unsere Zivilisation ihren Ursprung, doch heute füllen „jene Straßen, in denen einst die weltgrößten Philosophen und Theaterautoren zuhause waren, verzweifelte Bettler und Berge von verrottendem Müll“ – laut Dobbs trägt die „entsetzliche Politik der EU“ daran Schuld. „Der Traum ist tot. Wir müssen weitergehen.“ Schauspieler-Veteran Michael Caine und „The Who“-Sänger Roger Daltrey sehen das offenbar ähnlich. Sie stehen auf der Seite der „Brexiteers“ und befürworten einen Austritt aus der EU.
Auch in den Medien kam der Brief nicht allerorts gut an. Im „Guardian“ schrieb der Kolumnist Simon Jenkins, die meisten britischen Schauspieler arbeiteten ohnehin in den USA, also außerhalb der EU-Grenzen. „Sie sind wohl kaum Außenseiter in Hollywood.“ Das Schreiben, das von der offiziellen Kampagne „Britain Stronger in Europe“ koordiniert wurde, zeige wieder einmal nur die finanziellen Interessen: „Die meisten Leute stimmen mit ihrem Geldbeutel ab.“
Das Land ohne Musik?
Derweil unterstützt auch die regierungsunabhängige „Creative Industries Federation“, der nationale Branchenverband im künstlerischen Bereich, das „Remain“-Lager: 96 Prozent der Mitglieder gaben laut dessen Chef John Kampfner an, in der EU bleiben zu wollen. Er betonte, die Union habe das Startkapital für zahlreiche Filme wie eben auch den Welterfolg „Slumdog Millionär“ bereitgestellt. Zudem erleichtere es die Mitgliedschaft in der EU britischen Künstlern, Arbeit in Europa zu finden – und umgekehrt.
„Aus der EU auszuscheiden wäre katastrophal“, sagte John Summers, Chef des Hallé-Orchesters in Manchester, gegenüber dem „Guardian“. Es zählt zu den ältesten in Großbritannien und ist bestückt mit zahlreichen Musikern vom Kontinent. Laut Summers haben britische Orchester in den letzten zehn bis 20 Jahren einen großen Qualitätssprung erlebt durch die Spieler, die von außerhalb des Königreichs zu Auditions kamen. Ein Brexit könnte auf lange Sicht „künstlerische Isolation“ bedeuten.
Musik sei eine internationale Sprache. Es gebe keine Grenzen, und wenn man diese Freizügigkeit verliere, könnte man wieder zu dem werden, was man doch nicht mehr sein wollte: Das Land ohne Musik – ganz so „wie Deutschland uns zu nennen pflegte“.