Die Verbindung von Schrift und Bild gibt es in der Kunstgeschichte schon lange, man denke nur an die Darstellungen von Mariä Verkündigung aus dem 14. und 15. Jahrhundert, in die oft in goldenen Lettern der biblische Schriftzug „Ave Maria, gratia plena. . .“ eingearbeitet ist. Auch Bildergeschichten sind keine Erfindung der Moderne, die großen Freskenzyklen etwa in den Kirchen der italienischen Renaissance wurden geschaffen für eine Bevölkerung, deren Großteil weder lesen noch schreiben konnte. Sie erzählen möglichst eindrucksvoll und leicht verständlich die Passionsgeschichte oder das Leben der Heiligen.
Der Comic aber, wie ihn heute fast alle Menschen weltweit kennen, entstand erst an der Wende zum 20. Jahrhundert in den USA. Seine Entwicklung geht einher mit dem Aufstieg der Tageszeitung, die dank immer effektiverer Drucktechnik und sinkender Papierpreise in den amerikanischen Metropolen für jedermann erschwinglich wurde. Allein in New York konnte eine Zeitung täglich ein Millionenpublikum erreichen. Es war die Zeit der Zeitungsbarone, der mächtigen und märchenhaft reichen Verleger wie Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst, die einander erbitterte Kämpfe um Auflagen und Leser lieferten.
Begeisterte Leserschaft aller Schichten
Und im Werben um dieses Publikum waren die Comicseiten oder -beilagen ein wesentlicher Trumpf: Großformatig, in Farbe und von skurrilem Witz fanden sie eine begeisterte Leserschaft aus allen Schichten der Bevölkerung. Da lohnte es sich durchaus, einem Konkurrenten den gesamten Zeichnerstab abzuwerben, wie Hearst das 1891 mit Pulitzer machte.
Die Frankfurter Kunsthalle Schirn widmet den Pionieren dieses neuen Massenmediums noch bis 18. September eine große Retrospektive und stellt unter dem Motto „eine andere Avantgarde“ die Arbeiten von sechs Zeichnern aus, die maßgeblich an der Entwicklung des Comic beteiligt waren.
Der vielleicht faszinierendste Aspekt der Ausstellung, die sowohl – heute extrem rare – Zeitungsseiten wie Originalzeichnungen zeigt: Sie führt vor Augen, mit welch atemberaubendem Tempo die Zeichner die Grenzen des herkömmlichen Erzählens sprengten, Formate auflösten und surreale Experimente begannen.
Windsor McCay (1869–1934) etwa schickte in jeder Folge seiner ganzseitigen Serie „Little Nemo in Slumberland“ den kleinen Jungen Nemo im (Alp-)Traum in ein Schlummerland, in dem die Regeln der Physik (und der Logik) außer Kraft gesetzt waren, und ließ ihn die wildesten Abenteuer mit Riesenvögeln, Spielzeugarmeen, roten Riesen oder Ministädten erleben. Die Pointe nach jeder Folge: Nemo wacht auf und wird von der Mama geschimpft, dass er jetzt endlich Ruhe geben soll.
Eine Katze, die in eine Maus verliebt ist
Lyonel Feininger (1871–1956), hierzulande heute vor allem als Bauhaus-Künstler und Vertreter der Klassischen Moderne bekannt, begann seine Karriere als Karikaturist und Zeichner. Für die „Chicago Tribune“ entwickelte er – von Berlin aus – zwei Serien: „The Kin-der-Kids“, die in Anlehnung an Jules Verne über Meere und Kontinente jagen, und „Wee Willie Winkie's World“ (große Abbildung), eine stimmungsvoll-melancholische Weltbetrachtung, die vielfach schon den späteren Maler erahnen lässt. Die Serien waren nicht übermäßig erfolgreich, sie erlaubten Feininger aber, nach Paris zu ziehen, um dort Künstler zu werden.
George Herriman (1880–1944) bekam von Hearst eine Anstellung auf Lebenszeit. Seine Serie „Krazy Kat“ über eine Katze, die in eine Maus verliebt ist, trägt ihren Namen zu Recht – sie ist so skurril und absurd, dass sich Picasso die Folgen von Gertrude Stein aus New York mitbringen ließ.
Cliff Sterrett (1883–1964) lässt die Abenteuer von „Polly and her Pals“ in immer fantastischeren Umgebungen stattfinden, während Frank King (1883–1969) in seiner Serie „Gasoline Alley“ den Junggesellen Walt und sein Findelkind Skeezix mehr als 30 Jahre lang in Echtzeit durch das Leben begleitet – auch dies eine unerhört innovative Idee.
Die rund 230 Comic-Seiten in der Schirn eröffnen höchst vielschichtige visuelle Welten, die in ihrer kreativen Wucht auch im digitalen Zeitalter, ein Jahrhundert später, selten übertroffen werden.
Die Ausstellung „Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde“ ist bis 18. September in der Frankfurter Kunsthalle Schirn zu sehen. Di., Fr.–So. 10–19 Uhr, Mi. und Do. 10 bis 22 Uhr. Der opulente und sehr informative Katalog kostet im Buchhandel 35 Euro.