
Das hatte sich Peter Roos so schön vorgestellt. An diesem Dienstag, an seinem 70. Geburtstag, stand im Pfalztheater Kaiserslautern eine Aufführung seines Stücks "Bürckel! Frau Gauleiter steht ihren Mann" auf dem Programm. Corona hat die Vorstellung verhindert. Das Theater ist, wie so viele im Lande, seit März dicht. Roos muss warten. Statt im Mai soll das "Selbst-Gespräch in 45 Szenen" über einen der übelsten Verbrecher in Nazi-Deutschland nun am 1. Oktober Premiere feiern – der Abstände wegen nicht auf der Werkstattbühne, sondern im Großen Haus.
"Bürckel!" live zum 70. Geburtstag, das hätte gut gepasst zu seinem Lebenswerk. "Ich hätte gern einmal wieder nazifrei", hat Peter Roos kürzlich zwar in einem Interview gesagt, gleichzeitig bekennt er, geradezu "nazi-süchtig" zu sein. Eine Ambivalenz, die ihn bis in seine Träume hinein verfolgt, die ihn lebenslang schon quält, die ihn aber auch immer wieder antreibt. Eine Ambivalenz, ohne die es den Schriftsteller Roos vermutlich gar nicht gäbe.
Gauleiter Bürckel – eine geheimnisumwobene Figur
Mit "Bürckel!" geht der Blick des 70-Jährigen zurück in seine Kindheit. Josef Bürckel (1895-1944) war NS-Gauleiter in der Pfalz, später auch in Wien. "Ein Karrierist. Ein Frauenheld. Ein Alkoholiker. Ein Organisationsgenie. Ein gnadenloser Populist, der 200 000 Menschen auf dem Gewissen hat." Der frühe Tod, seine Jovialität, die (inszenierte) Nähe zum einfachen Volk hätten ihn zu einer geheimnisumwobenen Figur gemacht.

So jedenfalls hat es Roos schon als Kind empfunden. Bis zum zehnten Lebensjahr ist er in Göllheim in der Pfalz als Sohn des örtlichen Tierarzts aufgewachsen. In einer Zeit, in der über den Nationalsozialismus und die (Mit-)Verantwortung für die Verbrechen in den Familien meistens geschwiegen wurde. Fragen etwa nach den Judenfriedhöfen vor dem Dorf seien unerwünscht gewesen, erinnert sich Roos. "Da sollten wir Kinder selbst vom Auto aus nicht hinschauen." Bürckels Jagdhaus mitten im Wald war auch so ein Ort, der seine Neugier weckte, den die Eltern aber zum Tabu erklärten. Sechs Jahrzehnte später hat er selbst ein paar Tage in der sogenannten Bürckel-Hütte verbracht, um sich inspirieren zu lassen, um in die Biografie dieses Mannes hineinzuspüren.
"Bürckel!" ist ein Eine-Frau-Stück. Die Witwe des Gauleiters (gespielt von Hannelore Bähr) rekapituliert dessen Leben. Drei Jahre hat Roos an dem Stück gearbeitet, Tagebücher und Akten hat er gelesen, in Archiven recherchiert und Orte Bürckelschen Wirkens besucht. "Diese Erdung im Detail" sei ihm immer wichtig gewesen, sagt er, bei aller dichterischen Freiheit, die er für dieses Drama ebenso beansprucht wie für viele andere literarische Texte.
Pennäler Roos klingelt bei Lyrik-Legende Erich Fried
Zunächst, so erzählt es der Autor beim Besuch in Zimmern, einem Stadtteil von Marktheidenfeld, habe er Tierarzt wie sein Vater werden wollen. Die Welt der Bauernhöfe, dieses Leben in der Natur habe ihn fasziniert. Bücher gelesen habe er als Kind fast gar nicht. Erst nach dem Umzug der Familie nach Marktheidenfeld und später nach Würzburg (der Vater hatte die eigene Praxis aufgegeben und war in die Veterinär-Verwaltung gewechselt) wandelt sich dies. "Mit zwölf wusste ich, ich will schreiben, will Schriftsteller werden." Erste Texte entstehen, unter anderem für die Schülerzeitung. Als ihn die Eltern zum Englischlernen nach London schicken, ist das Erste, was er tut, im Telefonbuch die Adresse des Lyrikers Erich Fried herauszusuchen. "Mit dem nächsten roten Doppeldeckerbus und meinem Schulranzen voller Gedichte fuhr ich hin und klingelte." Fried habe selbst geöffnet. Mutig fragt der Pennäler aus Mainfranken: "Herr Fried, darf ich Ihnen meine Gedichte vorlesen?" Er durfte – gleich mehrfach in diesen London-Wochen.
Später ist es Martin Walser, zu dem der Student der Literaturwissenschaft und Philosophie und angehende Schriftsteller pilgert, dem er seine Texte zur Begutachtung vorlegt. "Walser ist mein literarischer Vater", sagt Peter Roos. Der Büchner-Preisträger vom Bodensee habe ihn viele Jahre handwerklich beraten, "niemals aber wertend". Eine Qualität, über die Roos im Rückblick noch staunt: "Ich kann das nicht." Erste Bücher enstehen, Titel wie "Von der Abschaffung des Tageslichts. Letzter Versuch, die Welt zu verändern". Das klingt nicht nur sperrig. Roos macht es seinen Lesern beileibe nicht immer leicht. Jedes Wort, jedes Satzzeichen, jeder Großbuchstabe: Alles ist wohl überlegt.
Die Liebe zum Füllfederhalter und die Digitalisierung
"Literarisches Schreiben", sagt Peter Roos, sei für ihn immer auch "eine physische Angelegenheit", Handwerk im engsten Sinne des Wortes. "Über den Arm und die Finger" werde der Geist "verkörperlicht". Dass er mit seiner Liebe zu Füllfederhalter ("50 sind es bestimmt – und alle funktionieren") und Tinte, für die mechanische Schreibmaschine, Tipp-Ex und Spezialpapier in Zeiten der Digitalisierung bei Lektoren und Redakteuren auf wenig Verständnis stößt, hat er schmerzlich erfahren (müssen). Für Roos "auch ein Lebensdrama". Mittlerweile macht er da Kompromisse, bedient auch den Computer. Aber für die ersten Gedanken, das Grundgerüst eines Textes, da brauche es einfach Füller und Papier.

Entstanden ist so im Lauf der Jahre ein Vielzahl an Veröffentlichungen. Journalistische Features, die er unter anderem als Wiener Kulturkorrespondent der "Zeit" verfasst hat ebenso wie die Generationenbücher ("Trau keinem über 30", "Die wilden 40er"), ein Männer-Briefroman ("Du pinkelst ja im Sitzen") oder auch Buntes ("Vespa bella donna", Vespa Stracciatella"). Aktuell arbeitet der 70-Jährige an einer Essay-Sammlung "Wissenschaft und Zärtlichkeit" über das gemeinsame Schreiben – mit Partnerin Friederike Hassauer. Seit 49 Jahren leben, lieben und arbeiten Roos und die Romanistik-Professorin zusammen – in Zimmern und in Wien. Für ihn ist sie die erste Leserin eines jeden Textes, "ein unerreichbares Hirn". Und was sagt Hassauer über ihn? "Im Leben mit Peter Roos gibt es keine Langeweile, lauwarm ist nie was. Mittelweg und Mittelmaß sind ihm zutiefst fremd."
"Ich bin kein Harmonist, schon vom Naturell her – eher wohl Polarist", sagt Roos denn auch über Roos. Also reden wir über "Hitler lieben". 1998 erschienen, nennt er den "Roman einer Krankheit" (Untertitel) sein wichtigstes Buch, aber auch die "größte Enttäuschung". 42 Verlage hätten die Veröffentlichung abgelehnt. Eine Verlegerin bot an, so erzählt der Schriftsteller, ihm den Buchtitel für 30 000 D-Mark abzukaufen, verlegen wollte sie das Buch aber nicht. Hitler und lieben, das gehe nicht zusammen, habe man ihm gesagt, "Pornografie" wird ihm gar vorgeworfen, weil er allzu konkret über die Beziehung Hitlers zu Eva Braun dichtet.
Zum Buch, das schließlich doch in einem kleinen Verlag (und später als Taschenbuch bei Reclam) erscheint, gehört das Kapitel "Der Mitläufer und ich", in dem Roos seine Recherchen über die tiefen Nazi-Verstrickungen von Hitlers Lieblingsmaler Hermann Gradl (1883-1964) schildert, den Umgang der Stadt Marktheidenfeld mit ihrem "berühmten Sohn" skandalisiert, der 1942 und dann erneut 1955 zum Ehrenbürger ernannt wurde. Dass er es bis heute geblieben ist, mache ihn "fassungslos", sagt Roos.
Nestbeschmutzer als Ehrentitel
So pflegt der 70-Jährige die Rolle des Nestbeschmutzers, ein "Ehrentitel", wie er findet. Einiges an Drohungen und Beschimpfungen hat er dafür aushalten müssen. "Marktheidenfelder Schriftsteller" möchte er denn auch auf keinen Fall genannt werden, betont er. Er sei ein Schriftsteller, der in Wien und Zimmern bei Marktheidenfeld lebt. Der Versuch, etwas Distanz zu gewinnen. Gleichzeitig hadert er damit, dass in der Stadtbücherei in Marktheidenfeld lediglich zwei seiner frühen Bücher stehen. "Hitler lieben" ist nicht dabei. Unterdessen heißt es aktuell im Rathaus, Thomas Stamm, der neue Bürgermeister von Marktheidenfeld, plane, "einen offenen und kritischen Diskurs über Hermann Gradl zu führen". Der Stadtrat werde sich demnächst mit Gradl beschäftigen, "auch hinsichtlich der Ehrenbürgerwürde". Wenn das mal keine Geburtstagsüberraschung ist – für Peter Roos.