zurück
BAD KISSINGEN
Nigel Kennedy, der Punk im Luxushotel
Nigel Kennedy: Der selbst ernannte Aufmischer des Klassikbetriebs war schon mit 14 weise, hasst klassischen Gesang und sieht auch mit 60 keinen Grund, auf ausgiebige After-Show-Partys zu verzichten.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Christoph Forsthoff
 |  aktualisiert: 27.04.2023 04:15 Uhr

Die Nacht nach dem Konzert war kurz – oder vielmehr lang: Bis acht Uhr morgens ging die Party in der Hotel-Suite von Nigel Kennedy. „Das war schon eine echte Herausforderung, bis zum Schluss ein guter Gastgeber zu bleiben“, grinst der Geiger, der am 23. Juni mit seiner Band und der Kammerakademie Potsdam zum Kissinger Sommer kommt. Andererseits schwört das „Enfant terrible“ der Klassikszene auch als 60-Jähriger noch auf diese After-Show-Partys: „Nach solch einem Auftritt habe ich so viel Adrenalin in mir, da brauche ich einfach eine Möglichkeit zum Chillout.“ Ob der Brite nach dem vormittäglichen Schlaf nochmal die Klamotten gewechselt hat, ist seinem Outfit aus schlabberiger Jogginghose, den beiden übereinander angezogenen Trikots seines Lieblingsclubs Aston Villa plus Felljacke nicht wirklich anzusehen; doch das Bier und die kurz darauf servierten Fritten mit Mayonnaise lassen Kennedy im Gespräch sofort zu Bestform auflaufen.

Frage: Nehmen Sie solche After-Show-Partys heute mehr mit als vor 20 Jahren?

Nigel Kennedy: Das ist ganz okay, solange ich tags drauf kein Konzert habe – da bin ich inzwischen schon vorsichtig geworden. Denn wenn die Leute Geld für eine Konzertkarte bezahlen, haben sie auch ein Recht, die bestmögliche Leistung zu hören und nicht die zweitbeste, weil irgendeiner zu viel getrunken hat. Aber wenn ich nur ein Interview zu geben habe, ist das kein Problem, denn ich kann auch reden, wenn ich betrunken bin (lacht).

Fürchten Sie manchmal, dass solch exzessive After-Show-Partys Ihre Lebenszeit verkürzen könnten?

Kennedy: Nun, bislang habe ich damit keine Probleme gehabt – und das geht ja nun schon ziemlich lange gut. Du musst den Moment leben: Das habe ich durch die Musik gelernt, denn da geht es beim Live-Auftritt immer um den Moment, der der wichtigste ist – nicht das Gestern oder Morgen. Und ich bin sehr glücklich damit, den Moment so intensiv wie möglich zu genießen – und da hat es schon so manchen Moment gegeben. Wenn ich eines Tages 90 bin, möchte ich nicht denken müssen: Hätte ich doch nur so manch schönen Moment gehabt. Das wäre traurig.

Sie sind jetzt 60 – wann wird der Mensch weise?

Kennedy: Ich denke, ich bin weise geworden, als ich 14 Jahre alt war.

Als 14-Jähriger?

Kennedy: Viele Erwachsene machen sich viel zu viele Gedanken um den Bau ihres Hauses, ihre Steuererklärung oder andere pragmatische Dinge – da bleibt dann nicht mehr viel Zeit für andere Gedanken oder gar weltanschauliche Betrachtungen. Als Teenager denkst du viel idealistischer: Wie sonst könnten sich so viele junge Menschen für das sozialistische oder kommunistische Gedankengut begeistern?

Aber braucht es für Weisheit nicht auch Erfahrungen?

Kennedy: Nein. Weisheit ist eine genetische Frage und hat nichts damit zu tun, dass jemand 90 Jahre alt ist. Oder was denken Sie?

Dass Weisheit schon auch aus Lebens-Erfahrungen erwächst.

Kennedy: Meiner Meinung nach hat Weisheit aber nichts mit dem Alter zu tun, sondern ist eine Frage der kollektiven, gesellschaftlichen Erfahrungen – und nicht der Erfahrungen des einzelnen. Nehmen Sie die Musik: Da sind die Emotionen als Jugendlicher noch viel stärker, nicht zuletzt in der Pubertät. Ich hatte als Kind ganz sicher mehr Empathie als heute. Natürlich haben wir als Musiker ohnehin viel Empathie.

Dann frage ich Sie jetzt nicht, wie es mit der Weisheit im Alter aussieht – trotzdem aber die Frage: War Ihr 60. Geburtstag vor einigen Monaten ein einschneidendes Datum für Sie?

Kennedy: Für mich hat dieses Datum keine Bedeutung – wir haben heute alle eine viel längere Lebenserwartung und können bis ins hohe Alter gesund bleiben. Und wir Musiker leben ohnehin in unserer eigenen Welt: Als Fußballer mag das anders sein, da hängst du der Zeit nach, als du vor 80 000 Menschen gespielt hast – als Musiker indes mag es zwar Hochs und Tiefs geben, aber du kannst dein Leben lang auftreten. Und wer weiß, vielleicht werden wir eines Tages 120 Jahre alt.

Insofern ist der 60. Geburtstag also auch kein Grund gewesen, etwas in Ihrem Leben zu verändern?

Kennedy: Nein, nicht wirklich – vielleicht könnte ich mal zehn Pfund oder auch Kilo abnehmen und meinen Hintern etwas häufiger zum Sport hochbekommen. Musikalische Pläne habe ich natürlich, aber die haben nichts mit meinem 60. Geburtstag zu tun. Ohnehin ist 60 doch keine Leistung: Jeder wird heute 60 – beim 70. Geburtstag könnte ich mir schon eher vorstellen zu feiern, denn das ist wirklich ein ordentliches Alter.

Und dann werden Sie nach wie vor ein Punk sein?

Kennedy: Ich bin ein Punk, der im Luxus-Hotel absteigt. Ich bin zweifellos noch immer kampfeslustig – aber ein Punk? Nein, das würde ich nicht sagen – selbst ein Johnny Lydon, einst Sänger der Sex Pistols, ist heute kein Punk mehr. Die machen alle fucking Reality-TV-Shows und versuchen so viel Geld abzukassieren, wie sie nur können. Natürlich sind seine Musik und Energie immer noch fantastisch, aber auch er hat sich weiterentwickelt.

Haben Sie sich früher als Klassik-Punk gesehen?

Kennedy: Die Leute haben mich so gesehen – und zweifellos habe ich die klassische Musik ein wenig aufgemischt und sie einem größeren Publikum eröffnet als nur den Über-70-Jährigen. Was indes nichts damit zu tun hatte, dass ich die Klassik aufmischen wollte, sondern ich war einfach immer der Meinung, dass ein jeder diese Musik verdient hätte.

Denn als ich meine Karriere begann, gab es viele Vorurteile gegenüber klassischer Musik, gerade auch in der Arbeiterklasse – und wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass sich das nicht zuletzt mit mir verändert hat und man in der klassischen Musik heute viel offener ist gegenüber Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft.

Da braucht es also keinen Geigen-Punk mehr?

Kennedy: In die klassische Szene ist inzwischen eine gewisse Normalität eingezogen und das ist eine gute Veränderung. Ich denke nicht, dass ich ein Punk gewesen bin, aber ich habe klargemacht, dass Klassik nicht nur etwas für fucking Yuppies ist – für sterbende Yuppies, denn das Publikum war damals gewöhnlich 70 und älter. In meinen Konzerten ist jedenfalls bis heute niemand gestorben – was wirklich erstaunlich ist, wenn man das Alter vieler Konzertgänger betrachtet.

Nun haben Sie sich im Laufe Ihrer Karriere durch die verschiedensten Musikgattungen gespielt – gibt es einen Lieblingsstil?

Kennedy: Oh ja, ich liebe Motown, doch ich habe diese Musik leider nie wirklich gespielt. Aber diese Songs sind so fantastisch, ein jeder der großen Motown-Musiker hat die anderen respektiert und mit ihnen zusammengespielt, es gab keinen Wettbewerb untereinander – und obendrein entstammen einige der größten Musiker dieser Bewegung.

Und wie sieht es mit einem Ranking der Musikgattungen aus, die Sie gespielt haben – findet sich da Bach vor Jimi Hendrix?

Kennedy: Bach spiele ich nach wie vor jeden Morgen, das ist Teil meines Lebens. Bei Hendrix hingegen bereitet es mir ein besonderes Vergnügen, seine Songs neu zu arrangieren und zu interpretieren. Weshalb ich seine Musik auch mehr genieße als jede andere, selbst mehr als die Bachs oder Beethovens, denn sie bietet eine unglaubliche Freiheit für das Spiel zwischen den Musikern.

Und was macht den Reiz von Bach aus?

Kennedy: Bachs Musik ist ein ewiges Projekt, das mich für den Rest meines Lebens beschäftigen wird – und es ist einfach wunderbar, morgens aufzuwachen und diese Musik zu spielen, die in jeder Hinsicht spektakulär ist: Ihre Struktur ist perfekt, Rhythmik und Impuls sind fantastisch, er hat großartige Melodien geschrieben. Wenn du eine intellektuelle Herausforderung suchst, findest du diese zweifellos bei Bach. Aus jeder musikalischen Perspektive lässt sich hier etwas lernen – und obendrein diszipliniert dich diese Musik.

Was haben Sie gegen Mozart?

Kennedy: Das ist einfach Kaffeehausmusik für eine dekadente bürgerliche Gesellschaft. Einige seiner Opern sind okay – auch wenn ich das Gelärme der Sänger eigentlich nicht mag. So wie ich überhaupt klassischen Gesang hasse: Das ist einfach völlig unnatürlich. Da ziehe ich es vor, jemandem zu lauschen, der seine Stimme auf eine natürliche Art und Weise einsetzt wie… (überlegt) Tom Waits oder Barry White (lacht schallend).

Nigel Kennedy spielt Jimi Hendrix, Luitpold-Park Open Air, Kissinger Sommer,. Freitag, 23. Juni, 19 Uhr, Karten: Tel. (09 71) 80 48 444

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Bad Kissingen
Aston Villa
Hass
Jimi Hendrix
Kissinger Sommer
Ludwig van Beethoven
Luxushotels
Musikalische Gattungen
Nigel Kennedy
Sex Pistols
Tom Waits
Weisheit
Wolfgang Amadeus Mozart
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen