Es ist ein fataler Irrtum: Bei der Hochzeit seines Cousins verliebt sich Mevlut in die kleine Schwester der Braut. Jahrelang schreibt er ihr heiße Liebesbriefe, um sie nach Ableistung seines Militärdienstes zu entführen – und zu entdecken, dass sie die Falsche ist. Das Mädchen Rayiha, das er in der Dunkelheit aus einem anatolischen Dorf nach Istanbul bringt, ist eine andere Schwester. „Diese Fremdheit in mir“ heißt der neue Roman des türkischen Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk (63).
Mevlut tut, was Ehre und Anstand verlangen: Er heiratet Rayiha, bekommt mit ihr zwei Töchter und ist glücklich – wenn da nicht diese Fremdheit in ihm wäre. Und die hat nichts mit dem Irrtum zu tun, der eigentlich ein schlechter Scherz seines zweiten Cousins war. Sie ist vielmehr ein Gefühl, das sich aus Mevluts Unverständnis für die gigantischen Veränderungen seines persönlichen wie auch gesellschaftlichen Umfelds ergibt.
Bruchbuden für Zugewanderte
Symbolisiert wird das durch das unglaubliche Baugeschehen in der Millionenstadt: Erst wachsen am Stadtrand illegal immer mehr Bruchbuden für die zahllosen Zugewanderten aus dem Hinterland. Gegen Ende müssen diese Notunterkünfte, aber auch traditionelle alte Bauten modernen Umgehungsstraßen oder Hochhäusern weichen.
Auch Mevluts Vater, der in Istanbul als Straßenverkäufer von Jogurt und Boza (ein leicht alkoholisches Hirsegetränk) Geld für die Familie in Anatolien verdient, ist ein Zugewanderter und haust in so einem Verschlag. Als Elfjähriger folgt Mevlut ihm an den Bosporus, wird ebenfalls Straßenhändler für Jogurt und Boza, später auch für Eis und Pilav. Er arbeitet als Kellner, Geschäftsführer, als Parkplatzwächter, Stromableser.
Über 40 Jahre beleuchtet Pamuk Mevluts Werdegang in der ständig wachsenden Metropole. Obwohl der vorzeitig von der Schule abgegangene Junge alles andere als dumm ist, fällt es ihm schwer, sich gesellschaftlich zu positionieren. Er kann sich weder mit dem strengen Konservatismus seiner Heimat Anatolien, dem die Familie auch im westlich orientierten Istanbul mehr oder weniger nahesteht, anfreunden, noch mit den linken Ideen seines besten Freundes.
Mevlut erweist sich als Betrachter der politischen wie religiösen Entwicklungen in der Türkei, der vielen Unzulänglichkeiten im Staate, die zum Alltag gehören wie Essen und Trinken, wie große und kleine Korruptionen (ohne Schmiergeld geht gar nichts), wie Härte, Folter, Bestrafung und Tod.
Pamuk, der sich schon mal wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht verantworten musste, hat mit dem in der Türkei 2014 veröffentlichten Buch keinen politischen Roman geschrieben. Aber natürlich ist Mevluts Geschichte nicht unpolitisch. Sie beinhaltet die Vision einer modernen Türkei, ist ein heiteres Buch der großen Gefühle, das gut tut und beste Reklame für eine Stadt und ein Volk ist, das der vielfach preisgekrönte Autor („Schnee“, „Museum der Unschuld“, „Cevdet und seine Söhne“) mit all seinen Stärken und Schwächen sieht.
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir (Hanser, 592 Seiten, 26 Euro)