Als der Freund und Dichter Peter Rühmkorf am 8. Juni 2008 um 11.55 Uhr stirbt, ist Günter Grass vier, fünf Minuten später bei ihm am Totenbett und beginnt zu zeichnen. Das zutiefst berührende Porträt mit feinem Strich zeigt den Kopf des Toten von der Seite mit geschlossenen Augen. In seinem Tagebuch notiert der Literaturnobelpreisträger über den Tod Rühmkorfs: „Als wir in Roseburg kurz danach eintrafen, fand ich seine Stirn noch warm.“
Zeichnung und Tagebuchauszug, dazu abgedruckt Grass' Abschiedsgedicht „Verwaiste Reime“ an Rühmkorf und persönliche Anmerkungen über die Jahrzehnte währende Freundschaft – all das ist nur ein Beispiel für das Konzept und die aufwendige Gestaltung von Grass' Werkstattbericht „Sechs Jahrzehnte“.
Politische Debatten
Grass, inzwischen 87, lässt den Leser teilhaben an seinem Leben: an erster Stelle, wie literarische Werke entstehen – von ersten Gedichten in der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. So sind handschriftliche Arbeitspläne und frühe Manuskriptfassungen als Faksimile gedruckt; Fotos zeigen Grass im Atelier beim Schreiben und Zeichnen; Illustrationen und farbenprächtige Aquarelle zeigt der Band ebenfalls, für den der Drucker G. Fritze Margull und Grass' langjährige Sekretärin und rechte Hand Hilke Ohsoling als Herausgeber zeichnen.
Ein zweiter Aspekt: wie sich Grass in politische Debatten einmischt – etwa in seiner Ablehnung des Irakkriegs von George W. Bush im Jahr 2003. Und wie ihn die öffentliche Kritik der Medien trifft – so nach dem Erscheinen seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ 2006 oder nach dem kritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ (2012) über Israels Regierungspolitik und unkontrollierte Atomwaffen. „Für viele Kritiker mochte es eine willkommene Gelegenheit gewesen sein, alte Rechnungen zu begleichen und mich endlich mundtot zu machen“, resümiert Grass über die Reaktionen zu seiner Autobiografie, in der er erstmals seine kurze Zeit bei der Waffen-SS als 17-Jähriger kurz vor Kriegsende öffentlich machte.
Enttäuschung über Freunde
Über das Echo zum Israel-Gedicht schreibt Grass: „Die aus meiner Perspektive selbst mit zeitlichem Abstand selten nachvollziehbaren, hysterischen bis niederträchtigen Reaktionen auf dieses Antikriegsgedicht haben mich nachhaltig erschüttert . . . Ohnmacht und Lebensekel machten sich breit.“ Enttäuschender noch sei das Schweigen vieler Freunde gewesen, „die sich bedeckt hielten“.
Der Werkstattbericht ist die Fortschreibung von einem Band über 40 Jahre Schaffen (1991) und einem weiteren, einmal aktualisierten Buch (2001/2004) über 50 Jahre als Autor, bildender Künstler und der SPD Verbundener, der sich politisch immer wieder einmischt. Insofern ist im neuen Band lediglich der 125 Seiten umfassende Teil seit dem Jahr 2003 wirklich neu.
Günter Grass: Sechs Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht (Steidl, 608 Seiten, 45 Euro)