Hundertfünfzigtausend Euro für ein paar hingekritzelte Zeilen! Für diese Summe ersteigerte ein Unbekannter im Dezember bei Sotheby’s ein unvollendetes Manuskript des Bruce-Springsteen-Hits „Born to run“ aus dem Jahr 1975. Zum Vergleich: Ein 2012 aufgetauchter Brief von Ludwig van Beethoven wurde ebenfalls auf 150 000 Euro taxiert. „Wie kann ich das noch toppen?“, wird sich Springsteen vielleicht gefragt haben, als er musikalische Schätze aus seinem Privatarchiv zusammenstellte.
Heraus kam das Album „High Hopes“, das heute, Freitag, 10. Januar, erscheint. Es setzt sich zusammen aus obskuren Coverversionen, Outtakes und radikal veränderten Versionen bereits veröffentlichter Songs. „Diese Platte beschreibt man am besten als eine Regelwidrigkeit“, erklärt der Sänger. „Aber nicht so sehr. Ich arbeite nämlich überhaupt nicht linear, wie viele andere es tun.“ Was nicht mehr auf ein Album passt, speichert Springsteen auf seinem Computer, und vermutlich nur er und die NSA wissen, um welche Schätze es sich dabei handelt. „Manche dieser Songs spiele ich bei meinen Konzerten, damit es mir nicht langweilig wird. Oft habe ich spät in der Nacht nichts zu tun und fahre den Rechner hoch, um mir die halb fertigen Sachen anzuhören und zu schauen, welche der Songs zu mir sprechen.“
Zum Beispiel die hochexplosive Nummer „American skin (41 shots)“. Eine frühe Version davon erschien 2001 auf dem Konzertalbum „Live In New York City“. Bei der nun vorliegenden Studiofassung ist Tom Morello (Rage Against The Machine, Audioslave, The Nightwatchmen) eindrucksvoll an der Gitarre zu hören. Zu dem kontroversen Song, der anfangs als Anti-Polizei-Statement verstanden wurde, ließ Springsteen sich direkt von dem tragischen Tod des 23-jährigen Immigranten Amadou Diallo aus Guinea inspirieren. Im Februar 1999 verwechselten New Yorker Cops Diallos Geldbörse mit einer Waffe und mähten ihn mit 41 Schüssen vor seiner Wohnung in der Bronx nieder.
Die freiheitlichen Werte der USA
Immer wieder wurden Springsteens Songs von Erzkonservativen als unpatriotisch und antiamerikanisch geschmäht. Aber mit der anrührenden Eigenkomposition „The wall“ stellt der Boss einmal mehr klar: Sein Patriotismus wurzelt nicht in einer Redneck-Überheblichkeit, sondern in den freiheitlichen Werten, auf denen die USA aufgebaut wurden. Den Menschen, die für diese Werte ihr Leben gaben, ist das aufrüttelnde „The wall“ gewidmet – aber auch begnadeten Musikern. „Die Idee zu dem Song kam mir, als ich mit meiner Frau Patti das Vietnam Veterans Memorial in Washington besucht hatte“, erzählt Springsteen. „,The wall' wurde inspiriert durch meine Erinnerungen an Walter Cichon. Diesem frühen Rocker aus New Jersey und dessen Bruder Ray habe ich viel zu verdanken. Der Sound ihrer Band Motifs war rau, sexy und rebellisch.“
Anders als bei seinen durchgeplanten Konzeptalben wie „The Rising“ – eine Auseinandersetzung mit den Ereignissen um den 11. September – ist auf „High Hopes“ vieles dem Zufall geschuldet. So wollte Tom Morello sich im Winter 2012 gerade auf seine erste Australien-Tour mit Springsteen vorbereiten, als er im Autoradio zufällig „High hopes“ hörte. Diese Nummer aus der Feder eines gewissen Tim Scott McConnell hatte Springsteen 1996 für eine heute vergessene EP namens „Blood Brothers“ eingespielt. Noch in der folgenden Nacht beschlossen der Sänger und sein Interimsgitarrist, den Song auf die Tour-Setlist zu hieven, nicht ahnend, dass er einmal zum Titelstück des 18. Springsteen-Albums werden sollte. Noch obskurer ist „Dream baby dream“, das Lied stammt von dem New Yorker Underground-Elektronik-Duo Suicide und geht auf das Jahr 1975 zurück. Springsteen gelingt das Kunststück, den dunklen, mysteriösen Synthie-Klassiker in eine wärmere und optimistischere Harmonium-Hymne zu verwandeln. Sie hat zwar überhaupt nichts mehr mit Suicide zu tun, veranlasste aber deren Sänger Alan Vega dazu, seinen eigenen Song fortan entweder so singen zu wollen wie Bruce Springsteen – oder gar nicht mehr.
In den späten 1970ern wurden Stadionrocker wie Bruce Springsteen von den jugendlichen Punks noch als langweilige alte Fürze abgetan, heute covert der mittlerweile 64-Jährige ohne Scheuklappen die australischen Punk-Pioniere The Saints. Bei Springsteen ist „Just like fire would“ ein unkomplizierter Schrammelrocksong, der sich um Themen wie Leidenschaft und das Leben auf Tour dreht und mit Tom Morello an der Gitarre in den berühmten Studios 301 in Sydney aufgenommen wurde. Überhaupt wurde Morello, 50, zum Filter, durch den die Musik des „Alten“ diesmal lief. „Die Songs, die ich ihm gab, kamen mit einem sehr aktuellen Anstrich zurück“, flötet der Sänger, der Morello für einen der wenigen Gitarristen mit einer ganz eigenen Note hält – wie The Edge, Pete Townshend oder Johnny Marr. Um seine Worte zu bekräftigen, benutzt der Boss gern Bilder: „Die E Street Band ist ein großes Haus, aber wenn Tom Morello mit uns auf der Bühne ist, dann entsteht ein neuer Anbau.“
Obwohl die E Street Band bis Ende 2013 ausgebucht war, verbrachte der Workaholic Springsteen seine wenigen freien Tage in verschiedenen Studios in Sydney, New Jersey und Los Angeles, um dort gemeinsam mit dem Produzenten Ron Aniello bis zu 15 Stunden am Stück an dem Album zu schrauben. „High Hopes“ ist kein lineares, sondern ein im besten Sinne zerrissenes Album geworden, das beweist, dass Supergroups nicht nur wie die langweilige Schnittmenge ihrer Akteure klingen müssen. Denn Bruce Springsteen und Tom Morello bilden praktisch die kleinstmögliche Supergruppe. Als einmaliges Experiment ist diese Konstellation enorm spannend, aber gerade an der Neuaufnahme des Klassikers „The ghost of Tom Joad“ merkt man, dass Morellos effektgeladenes Gitarrenspiel eigentlich nicht so recht zum feinfühligen Roots-Sound der E Street Band passt. Die Platte ist auch das musikalische Vermächtnis der 2008 und 2011 verstorbenen E-Street-Band-Mitglieder Danny Federici und Clarence Clemons.
Bruce Springsteen: High Hopes (Sony, ein Teil der Auflage enthält zusätzlich eine Live-DVD mit dem kompletten „Born In The USA“-Album)