„Hat man mitgemacht oder hat man sich nur diszipliniert verhalten?“ Das fragt sich 1978 Erwin Strittmatter, einer der populärsten und erfolgreichsten Schriftsteller der DDR („Der Laden“) in seinem Tagebuch. Auch zum Personenkult fand er deutliche Worte – dazu gehörten immer zwei: „Lecker und Leckenlasser!“ Schon der 2012 erschienene erste Band seiner frühen Tagebücher gibt neue, bemerkenswerte Einblicke in Strittmatters Doppelleben, vor allem aber in die DDR-Kulturszene und -politik.
Der jetzt veröffentlichte Folgeband mit den späten Tagebüchern bis zum Todesjahr Strittmatters 1994 ist eine offenherzige und doch kritische Selbstbefragung eines bedeutenden DDR-Autors, der sich als SED-Mitglied auch kulturpolitisch einbinden ließ, der hofiert und bedrängt wurde.
1981 treibt Strittmatter die Frage um, ob er nicht doch besser aus der Partei austreten sollte. Aber könnte das nicht seine Arbeit gefährden?, lautet gleich die nächste Frage. Eine Arbeit, die unter den DDR-Verhältnissen nach Strittmatters eigenen Worten von „Sklavendenken und Gehorsam“ begleitet ist, „sobald man an Partei-Politisches kommt“, das führe zu „Denkschranken“. Denn „die Obersten“ wollten überall mitreden und verfügten doch über „keinerlei Kunstsinn“.
Strittmatter rennt, wie manche seiner ostdeutschen Kollegen, immer wieder dagegen an und erntet entsprechenden Widerstand bis hin zu erbitterten Kämpfen mit der Parteiführung, wie zum Beispiel 1979 beim dritten Band seines „Wundertäters“, mit „Aussprachen“ beim SED-Chefideologen Kurt Hager. Strittmatter droht, sein Manuskript zurückzuziehen, die SED fürchtet in diesem Fall aber „Skandal im Westen“. Der Autor willigt schließlich in kleinere Korrekturen ein, bei denen es um ein DDR-Tabu geht – die Vergewaltigung deutscher Frauen beim Einmarsch der Roten Armee 1945.
Strittmatter, der im Zweiten Weltkrieg einer der SS unterstellten „Ordnungspolizei“ der Wehrmacht angehörte, die auch Kriegsverbrechen beging, hält auch selbstkritisch Rückschau auf seine frühen Sympathien mit dem Kommunismus nach 1945, als er, „der leise Sozialdemokrat“, seinen „Intellekt bewusst degradierte, weil er mir beim Glauben im Wege stand“. Das hielt offenbar länger an, wenn man seine Notizen über die scheindemokratischen Verfahren in Partei, Gesellschaft und Schriftstellerverband Anfang der 80er Jahre liest. „Weshalb tust du brav, was man in dieser Republik Wahlen nennt?“
1982 notiert er: „Ich habe zu viel widerspruchslos hingenommen. Man muss sich verweigern, hätte es längst tun müssen.“ Durch „stille Duldung“ habe er als Parteimitglied den moralischen Zerfall des Systems begünstigt. Dafür gab es den Nationalpreis und den Vaterländischen Verdienstorden, höhere Posten aber lehnt er ab. Der prominente Autor schimpft (zu Hause) über den „Scheiß-Verband“ und bleibt doch dessen stellvertretender Vorsitzender und stimmt allen Beschlüssen zu und weiß: „Augen-Auswischerei, Betrug, Oberflächlichkeit. Einst wird sich das (muss sich das) rächen.“
Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974-1994 (Aufbau Verlag, 623 Seiten, 24,95 Euro)